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Blick in die Geschichte Nr. 100

vom 20. September 2013

Hinrichtungen im Hardtwald 1944

NS-Mordserie im deutschen Südwesten begann in Karlsruhe

von Brigitte und Gerhard Brändle

Im Hardtwald nahe der Waldstadt steht eine riesige Betonwand, Überbleibsel eines Schießplatzes. Was dort am frühen Morgen des 1. April vor fast 70 Jahren geschah, war bis vor kurzem gut abgedunkelt. Zwar sind in einem Buch über den Karlsruher Friedhof zwölf Franzosen und zwei Belgier erwähnt, die an diesem Tag erschossen worden waren, Stichworte wie "Spionage" und "Réseau Alliance" bleiben jedoch ohne Erklärung. Es fehlen Namen, Biografien und noch mehr Erklärungen, wer sie wo und warum erschossen hat.

Reste des ehemaligen Schießstandes, in dem die Morde geschahen; sie finden sich nördlich der Theodor-Heuss-Allee, etwa in Höhe der Eindmündung der Breslauer Straße
Ausschnitt des Karlsruher Stadtplans von 1979, auf dem nördlich der Breslauer Straße noch das Gelände des ehemaligen Schießstandes erkennbar ist

Schwierige Ermittlungsarbeit

Über Robert Lynen, einen der Erschossenen, erschien in den BNN vor Jahren ein Artikel, im Internet sind die Namen der Ermordeten zu finden, mehr aber auch nicht. Erst Recherchen über verschleppte französische Widerstandskämpfer erbringen nähere Informationen. Forschende in Belgien und Frankreich ergänzen die bruchstückhaften biografischen Angaben, Briefwechsel führen zu Angehörigen und z.T. sogar zu Bildern der Ermordeten. Wahrscheinlich können nicht mehr alle 14 Biografien geklärt werden, aber das Wesentliche über die Morde im Hardtwald steht fest.

Widerstand gegen die deutschen Besatzer

Die am 1. April 1944 in Karlsruhe Erschossenen gehörten zu "Réseau Alliance", einer französischen Widerstandsgruppe mit über 3.000 Mitgliedern, die sich gegen die Besatzung ihrer Heimat durch das nationalsozialistische Deutschland wehrten. Gegründet wurde "Réseau Alliance" von Georges Loustaunau-Lacau, ab 1941 leitete Marie-Madeleine Fourcade die Organisation, deren Mitglieder zu mehr als einem Viertel Frauen waren. Haupttätigkeiten waren das Auskundschaften von geheimen Rüstungsfabriken in Deutschland, darunter auch in Peenemünde, und von Abschussrampen für V1- und V2-Raketen sowie die Übermittlung von Nachrichten über Truppenbewegungen der Wehrmacht, über Fahrten von Versorgungsschiffen und U-Booten an die Alliierten. Mitglieder von "Réseau Alliance" stellten falsche Papiere her für politisch Verfolgte oder Juden zur Fluchthilfe oder zum Untertauchen in die Illegalität, halfen Gefährdeten über die Grenzen und unterstützten Familien von Verfolgten oder Inhaftierten. Die Organisation hatte auch Beziehungen zu den Offizieren um Stauffenberg, wusste von den Vorbereitungen des Attentats auf Hitler und konnte Nachrichten über den Kriegsverlauf im Osten an die Westalliierten übermitteln. Wegen ihrer nachrichtendienstlichen Verbindungen zu den Alliierten, vor allem zum britischen Geheimdienst, galt sie den Nazis als gefährlichste Widerstandsgruppe. Da die Mitglieder von "Réseau Alliance" Tiernamen als Decknamen benutzten, erhielt die Gruppe von der deutschen Abwehr die Bezeichnung "Arche Noah".

Verhaftungen, Verhöre, Schein-Prozesse und Verschleppung nach Bruchsal

Durch Spitzel kamen die "Abwehr", der Geheimdienst der Wehrmacht, und die Gestapo auf die Spur der Widerstandsorganisation und konnten die Decknamen wie "Jaguar, Dachshund, junger Adler, Poney" enttarnen. Anfang 1943 wurden die zwölf später in Karlsruhe erschossenen Résistance-Mitglieder in Marseille, Béziers und im Raum Toulouse verhaftet, die beiden jungen Belgier in ihren Heimatgemeinden südöstlich von Brüssel. Die französischen Gefangenen waren am 17. Dezember 1943 aus dem Gefängnis Fresnes/Paris über Offenburg und Wolfach nach Freiburg deportiert worden. Dort verurteilte sie ein Nazi-Militärgericht, der 3. Senat des Reichskriegsgerichts Torgau, das in Freiburg tagte, in einem Schein-Prozess zum Tode. Noch im Dezember 1943 verschleppten die Nazis sie ins Zuchthaus Bruchsal.

Schon im April 1943 hatte das Gericht der Oberfeldkommandantur 672 in Brüssel, ein weisungsabhängiges Militärtribunal, also kein unabhängiges Richtergremium, die beiden belgischen Widerstandskämpfer wegen "Unterstützung des Feindes und Besitz von Waffen und Munition" zum Tode verurteilt. Die Nazis verschleppten sie aus dem Gefängnis St. Gilles in Brüssel über Gefängnisse in Aachen, Köln und Koblenz am 23. Februar 1944 ins Zuchthaus Bruchsal.

Die Nazis behandelten sie als "NN-Häftlinge", festgenommen bei "Nacht und Nebel". Sie waren "verschwunden", sie durften keine Briefe schreiben oder empfangen, Angehörige erhielten keine Auskünfte. Für sie wie für über 7000 weitere NS-Gegner galt der ausdrückliche Befehl von General Keitel vom Oberkommando der Wehrmacht auf der Grundlage eines "Führererlasses" vom 12. Dezember 1941, ihre "Vernichtungsspur zu verwischen".
Im Zuchthaus Bruchsal waren die französischen bzw. belgischen Widerstandskämpfer in Zellen im Keller an Händen und Füßen angekettet. Am 1. April 1944 wurden sie aus den Zellen geholt, man sagte ihnen, sie seien frei. Im Gefangenenbuch ist in der Spalte "Abgang" kein Eintrag.

1. April 1944 - 6 Uhr morgens

Aus dem Abschiedsbrief des noch nicht einmal 20-jährigen Marcel Felicé geht hervor, dass er und seine 13 Kameraden früh am Morgen von Bruchsal nach Karlsruhe gebracht wurden, denn er notierte: "6 Uhr morgens Karlsruhe". Vor der Exekution durch Erschießen kennzeichneten die Mörder, deren Identität noch unbekannt ist, die Herzgegend mit einem Stofffetzen. Die 14 Todeskandidaten lehnten eine Augenbinde ab.

In der Mitteilung des Gerichts an den Bürgermeister der Gemeinde Hoeilaart über die Erschießung von Marcel Felicé ist der Ort des Verbrechens genannt: "Schießplatz Fürstenberger Schlag". Im aktuellen Stadtplan ist dieser Schießplatz nicht mehr eingezeichnet, wohl aber in den Plänen von 1952 und 1979.

In der Sterbeurkunde der Stadt Karlsruhe, ausgestellt am 21. Mai 1946, ist als Todeszeitpunkt "7.35 Uhr" eingetragen, als Todesursache die die Nazi-Verbrechen leugnende zynische Formulierung "plötzlicher Herztod".

1944 - 2014: erschossen - verscharrt - vergessen

Die Nazis warfen die Leichen außerhalb der Umgrenzung des Hauptfriedhofs neben dem Eingang zum jüdisch-liberalen Friedhof in eine Grube. Wann nach der Befreiung die französischen Besatzungsbehörden auf diese Leichengrube aufmerksam (gemacht) wurden, ist unbekannt. Im Mai 1945 exhumierten und identifizierten französische Militärs die Leichen in Anwesenheit von Marie-Madeleine Fourcade, der Leiterin von "Réseau Alliance". Am 30. Juni 1945 wurden die Leichen auf dem französischen Militärfriedhof, der ab 30. April 1945 jenseits der Ostmauer des Hauptfriedhofes zur Verfügung stand, mit militärischen Ehren bestattet. Am 3. Juli 1947 ließ die französische Militärbehörde die 14 Leichen exhumieren und überführte sie in ihre Herkunftsgemeinden bzw. nach Strasbourg auf den Militärfriedhof Cronenbourg.

Ehrenformation der französischen Armee vor den Särgen der ermordeten Mitglieder von "Réseau Alliance" bei der Wiederbestattung der Leichen am 30. Juni 1945 auf dem kurz zuvor angelegten französischen Militärfriedhof beim Karlsruher Hauptfriedhof
Wiederbestattung der Leichen der 14 Widerstandskämpfer am 30. Juni 1945 auf dem zwei Monate zuvor angelegten französischen Militärfriedhof beim Karlsruher Hauptfriedhof

Beinahe vergessene NS-Mordserie

Die Hinrichtungen am 1. April 1944 im Hardtwald in Karlsruhe waren der Beginn einer Mordserie mit 231 Opfern: Am 23. Mai erschossen die Nazis in Ludwigsburg 16 Mitglieder der Widerstandsgruppe "Réseau Alliance", am 31. August weitere 24 französische Widerstandskämpfer in Heilbronn - diesen Exekutionen gingen noch Kriegsgerichtsverfahren mit Anklageschrift und Pflichtverteidigung voraus, auch wenn das Todesurteil schon feststand, ein Geistlicher war jeweils anwesend und ein Arzt stellte den Tod fest.

Ohne Anklage, förmliches Gerichtsverfahren und ohne Urteil ermordeten die Nazis in der Nacht vom 1. auf den 2. September 1944 im Konzentrationslager Natzweiler im Elsass 107 Widerstandskämpfer und -kämpferinnen per Genickschuss. In der sogenannten "Schwarzwälder Blutwoche" Ende November 1944 holten Gestapo-Männer unter der Führung von Julius Gehrum, SS-Obersturmführer bei der Gestapo in Straßburg, die NN-Häftlinge aus den Gefängnissen auf der anderen Seite des Rheins. Sie folterten, erschossen oder erschlugen in Bühl acht, in Freiburg drei, in Gaggenau neun, in Kehl neun, in Offenburg vier, in Pforzheim 25 und in Rastatt zwölf französische Widerstandskämpfer und -kämpferinnen von "Réseau Alliance".

"Ich kann mich heute nicht erinnern"

Erich Isselhorst, SS-Sturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Straßburg, der Verantwortliche für die 70 Morde im November 1944, und Julius Gehrum, SS-Obersturmführer und Anführer der Mördertruppe in der "Schwarzwälder Blutwoche", wurden am 18. Mai 1947 in Strasbourg zum Tode verurteilt und auch hingerichtet.
Karl Buck, Kommandant von Schirmeck und Mörder in Natzweiler, wurde in Frankreich zum Tode verurteilt, dann begnadigt zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe und 1955 in die Bundesrepublik ausgeliefert. Sieben Verfahren gegen ihn in der Bundesrepublik waren 1957 eingestellt, Karl Buck war ein freier Mann, der sich in Rudersberg in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Welzheim, dessen Kommandant er bis 1940 war, als Hühnerzüchter betätigte.

Helmut Schlierbach, SS-Sturmbannführer und Chef der Gestapo in Straßburg, der Vorgesetze von Buck und Gehrum, hatte die "systematische Vernichtung von "Réseau Alliance" befohlen. 1946 verurteilte ihn ein britisches Gericht wegen anderer Verbrechen zu zehn Jahren Zuchthaus, doch schon 1952 kam er frei und wurde vom Justizministerium als "Spätheimkehrer" anerkannt, das so den Täter zum Opfer machte. Das Todesurteil eines französischen Gerichts 1954 wegen der Morde in Schirmeck blieb wirkungslos, da die Bundesrepublik ihn nicht auslieferte. Da es keine schriftlichen Befehle gab, konnte Schlierbach bei einer Vernehmung 1961 sagen. "Ich kann mich heute nicht erinnern ... hatte nie damit zu tun ... mir ist nie bekannt geworden ... ich weiß auch nichts davon ...". Er starb 2005, geehrt mit einer Todesanzeige des Sparkassen- und Giroverbandes Hessen-Thüringen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für sein "außergewöhnlich großes persönliches Engagement ... Verantwortungs- und Pflichtgefühl ..." und seine "menschliche Haltung".

In Bühl, Heilbronn, Kehl, Offenburg und Pforzheim existieren inzwischen Erinnerungstafeln an den Orten des Geschehens. In Karlsruhe gibt es bisher keine entsprechende Würdigung der hier ermordeten französischen und belgischen Widerstandskämpfer.

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