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Blick in die Geschichte Nr. 100

vom 20. September 2013

Reinhold-Frank-Gedächtnisvorlesung 2013

Widerstand im Nationalsozialismus - eine aktuelle Botschaft aus einem vergangenen Jahrhundert

von Angelika Nußberger

Reinhold Frank - in Szene gesetzt

Geschichte lässt sich auf die Bühne bringen. Stellen wir uns ein modernes Theater vor, karg ausgestattet wie alle modernen Theater, mit nur einer Öllampe und einem Mann, der am Schreibtisch sitzt. Es ist der Rechtsanwalt Reinhold Frank, der an seinen Schriftsätzen arbeitet. Es ereignet sich nichts, der Mann liest, ist vertieft in die Dokumente, die vor ihm liegen, blickt nicht auf. Weil es ein modernes Theater ist, sehen wir ihm sehr lange zu. Es ereignet sich nichts. Der erste Akt.

Im zweiten Akt sitzt der Mann wieder an einem Tisch. Diesmal ist es ein runder Tisch. Die Öllampe gibt noch weniger Licht. Um den Mann gruppiert sind andere Männer, gleichen Alters, gleicher Verschlossenheit. Sie beugen sich zueinander und sprechen. Wir verstehen nicht, was sie sagen. Weil es ein modernes Theater ist, sehen wir ihnen sehr lange zu. Es ereignet sich nichts. Der zweite Akt.

Im dritten Akt ist der Mann wieder alleine. Er sitzt wieder an einem Tisch, diesmal an einem kleinen wackeligen Holztisch. Die Öllampe ist am Erlöschen. Der Mann starrt vor sich hin. Er wartet auf seine Hinrichtung. Weil es ein modernes Theater ist, sehen wir ihm sehr lange zu. Es ereignet sich nichts. Der dritte Akt.

Ein guter Regisseur würde die Hinrichtung nicht in Szene setzen. Vielleicht ließe er sie einen Sprecher verkünden. Oder man würde uns, dem Publikum, beim Verlassen des Theaters einen Zettel in die Hand drücken. Damit wir Gewissheit haben. Reinhold Frank ist hingerichtet worden.

Wir stehen auf dem Theatervorplatz. Was hat dies bedeutet? War dies das Ende? War dies der Anfang? Ich behaupte, es war der Anfang. Dieser Anfang liegt nunmehr 68 Jahre zurück. Der Anfang beginnt 1945.

Vom Vaterlandsverräter zum Helden

Wertungen ändern sich. Reinhold Frank ist im Jahr 1945 vom Vaterlandsverräter zum Helden geworden. Sehr eindrücklich für den - zunächst langsamen und zögerlichen - Beginn des Umbruchs der moralischen und später auch rechtlichen Wertungen am Ende des Zweiten Weltkriegs finde ich eine Stelle in den Memoiren von Joachim Fest mit dem Titel "Ich nicht". Darin werden die Reaktionen geschildert, als die in französische Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten am 11. Mai 1945 von der Kapitulation der Wehrmacht erfahren:

"Schon von weitem war eine erregte Auseinandersetzung zu erkennen; als ich hinzukam, sagte einer der Gefangenen gerade zu einer Gruppe Herumstehender: 'Na, endlich Schluss! Es wurde höchste Zeit!' Die Mehrzahl der Versammelten sah ihn wortlos an. Wenige Meter entfernt stand ein Feldwebel, der verschiedentlich so herrisch aufgetreten war, dass man annehmen konnte, er halte die Zeit des Herumkommandierens noch immer nicht für vorbei. Nicht ohne Schärfe fuhr er den Soldaten an: 'Was heißt denn endlich? Dass wir den Krieg verloren haben? Wolltest du das?' Dabei sah er sich beifallsuchend um. Der Angesprochene, der schon im Abgehen war, machte kehrt, rückte nah an das Gesicht des Feldwebels heran und erwiderte in gedämpftem, aber uneingeschüchtertem Ton: 'Nein! Sondern dass der verdammte Krieg zu Ende ist!' Ein Gefreiter mischte sich ein und brüllte über die Köpfe hin: 'War sowieso ein Idiotenkrieg! Von Anfang an! Wer hat denn an den Sieg geglaubt?' Ein anderer rief in das zunehmende Durcheinander hinein: 'Das Genie des Führers! Du lieber Himmel!' Und bald schrie einer gegen den anderen an, vereinzelt kam es zu Handgreiflichkeiten, und immer wieder fiel das Wort vom 'Idiotenkrieg' und von der 'Größe des Führers'. Die Auseinandersetzung offenbarte, wie empfindlich der Gegenstand selbst jetzt noch war. Jedenfalls ließ sich an den Gesichtern ablesen, dass die eingeübten Reflexe bei vielen weiterhin ihren Dienst taten. In nicht wenigen Mienen spiegelte sich ein ungläubiges Erschrecken über die Offenheit, mit der sich einige über die Hitlerzeit äußerten." Der große Krieg, dessen siegreiches Ende man bis zuletzt beschworen hatte, war zum "Idiotenkrieg" geworden.

Nur wenige Monate zuvor, im Januar desselben Jahres, war Reinhold Frank noch wegen Hochverrats verurteilt und hingerichtet worden, weil er ähnlich dachte wie die Soldaten, die dies erst nach dem Ende des Krieges auszusprechen wagten. Weil er nicht an die Überlegenheit und nicht an den Sieg des nationalsozialistischen Regimes glaubte, weil er diejenigen verteidigte, die sich ihm entgegenstellten, weil er in die Planung für eine Zeit "danach", nach einem Sturz des Regimes, einbezogen worden war.

Reinhold Frank bei seinem Prozess vor dem Volksgerichtshof 1945

Die Ziele und Werte, die als Hochverrat angesehen worden waren, dienten bereits gegen Ende 1945 als neue Orientierungspunkte und wurden in der politischen Arbeit der ehemaligen Mitglieder der Reinhold-Frank-Gruppe beschworen. Auch wenn die Verschwörer des 20. Juli, auch wenn die anderen Widerstandsgruppen in manchem geirrt haben mögen und man ihr politisches Programm nicht als eine Vision für unsere Zeit akzeptieren will, so erkennen wir doch - trotzdem - ihren Mut und ihr "Nein" zum Nationalsozialismus als wegweisend auch für unsere Gegenwart an.

Seither wurden für Reinhold Frank Gedenksteine errichtet, Straßen und eine Schule nach ihm benannt. Während es im Frühjahr 1945 noch ein sehr kleiner Kreis von Freunden und Bekannten war, die sich im Verborgenen in der St. Bonifatiuskirche bei dem von Pfarrer Richard Dold abgehaltenen Gottesdienst trafen und trotz Verbots des "Hochverräters" gedachten, ist es jetzt die Stadt Karlsruhe selbst, die seinen Namen mit Stolz erwähnt und zu seinen Ehren in den Bürgersaal des Rathauses einlädt.

Vom Helden zum Beschwerdeführer

Stellen wir uns vor, die Geschichte von Reinhold Frank hätte sich in einem europäischen Land im Jahr 2013 ereignet. Nach einem Attentatsversuch wäre ein Verschwörungsplan aufgeflogen, die Verschwörer wären in allen Landesteilen noch am Abend desselben Tages aufgespürt und vom Geheimdienst - ohne Haftbefehl und damit auch ohne Angabe eines Haftgrundes - verhaftet worden. Auch eine Vorführung vor einen Richter hätte nicht stattgefunden. Der anschließende Gerichtsprozess würde rechtsstaatlichen Maßstäben Hohn sprechen und im Grunde nur aus einer hasserfüllt vorgetragenen Anklage bestehen. Der Richterspruch würde auf ein Todesurteil lauten.

Wir spüren - im Europa des 21. Jahrhunderts ist all dies kaum vorstellbar. So ist die Todesstrafe in allen Mitgliedsstaaten des Europarats und damit in allen europäischen Staaten außer Weißrussland abgeschafft. Für die europäischen Staaten schiebt nicht nur das nationale Recht, sondern auch das Völkerrecht einem derartigen Vorgehen der staatlichen Behörden einen dicken Riegel vor, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Denn es stellt dem Betroffenen konkrete Verfahren zur Beschwerde wegen Rechtsverstößen gegen nationales und gegen das Völkerrecht bereit, um sich zu wehren. Wahrscheinlich würde Reinhold Frank im Jahr 2013 zu einer Haftstrafe verurteilt werden. Bei dem Verfahren wäre es nicht mehr um das Große gegangen, um das Ganze, um den Mut, sein Leben für seine Überzeugung zu opfern, sondern vielmehr um die Details eines juristischen Prozesses.

Aus Helden sind Beschwerdeführer geworden. Dies ist nicht abwertend gemeint. Aber es ist eben etwas Anderes. Es fehlt die "letzte Konsequenz", die "himmelschreiende Ungerechtigkeit", die mit aller Dringlichkeit gestellte Sinnfrage, die für uns im Narrativ der deutschen Widerstandskämpfer so entscheidend ist.

Warum musste, nur wenige Monate vor dem Ende des "kollektiven Wahnsinns" in Deutschland, zu einem Zeitpunkt, als das Ende schon für alle erkennbar war, ein ungerechtes Todesurteil noch vollstreckt werden? Warum hatten die Henker solche Eile? War dies nicht letztlich einfach absurd?

Aber gerade weil die Hinrichtung der Widerstandskämpfer so sinnlos war, war sie eben nicht das Ende, sondern der Anfang der eigentlichen Geschichte; was sinnlos war, war doch Sinn stiftend, so zumindest aus der Perspektive von heute aus gesehen.

Vom Beschwerdeführer zum Mitmenschen

Nehmen wir an, Reinhold Frank, Rechtsanwalt und Widerstandskämpfer im Dritten Reich, stünde hier und heute einfach neben uns, - hätte er uns dann etwas zu sagen? Können wir ihn einfach neben uns als unseren Mitmenschen, den wir bewundern, dem wir zuhören wollen, sehen?

Reinhold Frank ist ein leiser Held. Reinhold Frank ist ein dem Wort zugewandter Held. Er plädiert, er spricht, er streitet für seine Mandanten, aber ohne zu verletzen. Reinhold Frank ist ein verborgener Held. Er ist eher zufällig auf die Bühne der großen Geschichte getreten, und dies letztlich auch erst mit seinem Tod. Reinhold Frank ist jemand, der bei seinen Überzeugungen blieb, der nicht zurückwich, als alle zurückwichen.

Wir kennen den Satz: Sag mir, wer dein Freund ist, und ich sage dir, wer du bist. Dies mag man auch übertragen können: Sag mir, wer für dich Held ist, und ich sage dir, wer du bist.

Was also sagt es über uns aus, dass wir einen Mann wie Reinhold Frank in besonderer Weise verehren? Womit spricht uns sein Leben, womit spricht uns sein Schicksal an? Warum brauchen wir einen leisen Helden aus der NS-Zeit? Warum einen Helden des Wortes? Einen verborgenen Helden, einen Helden, den vor allem seine Standhaftigkeit auszeichnet?

Ich will drei Antworten zu geben versuchen: Die erste Antwort ist: Weil wir uns nach einem Anti-Helden sehnen, der das Gegenteil von dem verkörpert, was der Nationalsozialismus für uns darstellte: Der herrische, zum Streit bereite Feldwebel, der neben seinen von der Propaganda geprägten Ansichten nichts gelten lässt - das ist der Gegentyp. Vorbilder, neue Vorbilder für die Zeit nach 1945 sollen vor allem anders sein als dieser herrische Feldwebel.

Die zweite Antwort: Weil es noch immer die NS-Zeit ist, die uns in unserer Geschichte am meisten herausfordert und bewegt. Dies gilt sogar für die Jugend: Im Jahr 2008/2009 beschäftigte das Thema "Helden - geehrt, verkannt, vergessen" Hunderte von Jugendlichen. Rund ein Drittel befasste sich mit stillen Helden und Widerstandskämpfern während des Nationalsozialismus.

Die dritte Antwort: Weil wir in unserer fortdauernden Zerrissenheit, aufgrund unserer mea-culpa-Gefühlslage Menschen brauchen, die für uns Brücken schlagen zwischen der Zeit vor 1933 und der Zeit nach 1945. Reinhold Frank hatte die Brücken zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu bauen versucht, die zurückreichten in das Gedankengut der Weimarer Republik, hatte angekämpft gegen die Ströme der nationalsozialistischen Ideologie, die sie hinwegzureißen drohten. Aber die Brücken stehen noch, für die Nachgeborenen. Für uns ist es wichtig, dass die Anfänge des Brückenbaus zurückreichen in jene düsterste Zeit der deutschen Geschichte. Als alles in sich zusammenstürzte, waren bereits die ersten Brückenpfeiler errichtet, auf die sich der Neuanfang stützen konnte. Dies lindert - zumindest ein wenig - den Bruch in unserer Geschichte und den Bruch in unserer Identität. Denn um unsere Identität geht es bei der kollektiven Erinnerung.

Stünde Reinhold Frank neben uns, könnte er uns das erklären: Dass er sich nicht von der Stelle rücken ließ, an der zu stehen er für richtig hielt. Dass man sich in "normaler" Zeit nicht vorstellen kann, wie die Welle der Geschichte über dem eigenen Kopf zusammenschlagen kann. Dass man für Opfer bereit sein muss, da der einfache Weg nicht immer der richtige Weg und manches Mal auch nicht der akzeptable Weg ist.

Die Karlsruher und "ihr" Reinhold Frank

Auf die Frage "Kennst du Reinhold Frank?" würde wohl allenfalls ein kleiner Teil der Karlsruher spontan mit "Ja" antworten. Sicherlich wüssten nur wenige, dass er "einer der ihren" ist, der von den Schergen des NS-Regimes hingerichtet wurde, weil er dachte, dass das Recht nicht der Gewalt zu weichen habe. Wüssten sie es, so wäre ihnen seine Botschaft wichtig: die Botschaft vom Aus-der-Menge-Heraustreten und Nein-Sagen, wenn "Ja" zu sagen das Gewissen verbietet. Denn diese Botschaft ist auch im 21. Jahrhundert aktuell wie eh und je.

Prof. Dr. Angelika Nußberger, Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg

 

Professorin Dr. Angelika Nußberger mit Oberbürgermeister Dr. Frank Mentrup 2013

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Reinhold-Frank-Gedächtnisvorlesung vom 14. Juni 2013 im Bürgersaal des Rathauses. Der vollständige Text wird in einer Broschüre veröffentlicht, die im Stadtarchiv, den historischen Museen der Stadt Karlsruhe und an der Rathauspforte demnächst erhältlich ist.

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