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Blick in die Geschichte Nr. 105

vom 12. Dezember 2014

Ein Karlsruher in Berlin

Erinnerungen an den 4. November 1989

von Jan Knopf

Der Verfasser dieser Erinnerungen war seit 1985 ständiger offizieller Gast in der DDR, um die zwischen dem Aufbau-Verlag, Berlin/DDR und dem Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. vereinbarte gemeinsame Große kommentierte Ausgabe der Werke Bertolt Brechts in 30 Bänden (GBA) mit dem im Bertolt-Brecht-Archiv (BBA), Berlin/DDR, gelagerten Originaldokumenten zu erarbeiten. Am 4. und 5. November 1989 hatten die Verlage in Berlin/DDR eine Herausgeber-Tagung angesetzt. Alle vier Herausgeber der Ausgabe, Dr. Werner Hecht, Direktor des Brecht-Zentrums der DDR, Prof. Dr. Werner Mittenzwei, Akademie der Wissenschaften der DDR, Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller, Universität Tübingen, und Prof. Dr. Jan Knopf, damals Universität Karlsruhe (TH), beteiligten sich, eingeladen von den Veranstaltern, an der Demonstration und verfolgten die Reden vom Hotelzimmer aus bei eingeschaltetem DDR-Fernsehen, das die Kundgebung live übertrug. Alle waren zu diesem Zeitpunkt noch der Meinung, dass der DDR ein langer, demokratischer Reformkurs mit einer neuen, aus freien Wahlen hervorgehenden Regierung bevorstünde, und gaben diesem Prozess etwa zehn bis 15 Jahre.

Die Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB) in Karlsruhe wurde noch vor den Herbst-Ereignissen im Frühjahr 1989 extra für die GBA gegründet. Die Ausgabe wurde nach einer notwendigen Übergangszeit fortgesetzt und 1998 bzw. 2000 mit dem Erscheinen des Registerbands abgeschlossen. Die ABB ist weiterhin mit zahlreichen, inzwischen internationalen Projekten tätig. Nachfolge-Institutionen der Karlsruher ABB entstanden 2001 mit dem "Brecht-Zentrum" in Miryang/Südkorea und 2005 mit der "ABB/Osaka" in Japan.

Aber ihr Reich erinnert
An den Bau des Assyriers Tar, jene gewaltige Festung
Die, so lautet die Sage, von keinem Heer genommen werden konnte, die aber
Durch ein einziges lautes Wort, im Innern gesprochen
In Staub zerfiel.
Bertolt Brecht, 1936

Heiner Müller liest im Kulturclub, Unter den Linden, Berlin, Hauptstadt der DDR, am 2. November 1989. So hieß es jedenfalls. Normalerweise füllte Müller riesige Räume. Diese Veranstaltung jedoch war im gediegenen Berliner Zimmer angesetzt, das höchstens hundert Leute fasste; es war zwar voll, aber jeder fand einen Sitzplatz. Hatten die Veranstalter schon vorgesorgt?

Heiner Müller las nicht. Er erklärte, während die biedere Dame, welche die Veranstaltung leitete, verlegen dazu lächelte, er habe nichts mitgebracht, keine Verse, keine Szenen. Er erwarte Diskussionen, Fragen, Vorschläge. Er grinste, als habe er schon geahnt, dass nur der harte Kern der Literaturbeflissenen während dieser brodelnden Tage in diesem literarischen Salon aufkreuzte.

Die Fragen kamen nur zögernd, verhalten. Sie zielten auf Politik, auf "Anliegen", wie das grässliche Modewort in der DDR lautete. Was hat uns der Dichter zu sagen? Müller lächelte und wehrte ab. Die Zeit der großen Worte, zu deren Tribüne er auch die der Bühne zähle, sei vorbei. Mit Ideologie würde keine Kunst gemacht, was die Deutschen immer wieder forderten. Was der Dichter zu sagen hätte, das sagte er mit der Leichtigkeit der Kunst, ästhetisch. Das komme aber leider nur ganz selten oder gar nicht in den Debatten zur Sprache.

Die Kunst, das Theater hätten ihre eigene Zeit, die sie der gewohnten entgegenstellten und mit der sie eingeschliffenes Verhalten in Zweifel zogen. Kunst hätte viel mit Humor zu tun, betonte Müller provokativ, die Worte langsam zerkauend. Sein Theater hätte sich bewährt, indem es die Frage nach dem Tod stets neu stellte – und kam zu vernichtenden Urteilen und entsprechend vielen Toten auf der Bühne. Dann folgte im Originalton: Auf der Bühne stirbt es sich leichter als im Bett oder auf der Straße! Jetzt sei die Straße dran. Die Zeit des Theaters in der DDR sei für eine geraume Zeit vorbei. Das Theater fände ab übermorgen real statt, auf der Straße, mit einer genehmigten Demonstration, von der niemand wusste, wie es der neue Obere, der Krenz, dem man keinen Vornamen gönnte, es damit wirklich halten wolle. Hatte er schon die Panzer an die Mauer am Alexanderplatz beordert?

Gefragt danach, was er auf der Demonstration am Samstag sagen werde, antwortete Müller: am besten nichts. Er sehe sich nicht als Repräsentant wie einst noch Thomas Mann, der sich zu jeder (auch unpassenden) Gelegenheit zur Verfügung der Politiker gestellt hätte. Und schon gar nicht sei er deren Sprachrohr. Er hätte geredet, wo er was zu sagen hatte: auf dem Theater. Jetzt sollten die reden, die bisher nicht reden konnten, nicht reden durften.

Den Besuchern gingen die Fragen aus. Verlegenes Schweigen. Die Veranstalterin schaute unschlüssig in die Runde; es waren kaum fünfzehn Minuten vergangen. Einige begannen aufzustehen, die andern sahen sich ratlos um. Schließlich entschloss sich die Dame, eine Rauchpause anzusetzen. Ja, Rauchen gehörte damals noch zum guten Ton, vor allem in der DDR, vor allem bei den Frauen. Also: rauchen. Aber die meisten gingen, verärgert.

Danach: mühsamer Neubeginn vor erheblich reduziertem Publikum. Da sich wieder niemand rührte, fragte ich in die Runde nach der Einschätzung der Demonstration, insbesondere nach möglichen Provokationen von "rechts": die alte, aber nie offen gestellte Frage nach dem Faschismus, dem alten und dem neuen, in der DDR. Auf einmal wurde es lebhaft. Anwesende berichteten von Provokateuren, die ganz offensichtlich von der Stasi gezielt eingesetzt wurden. Von den üblen Methoden der Polizei bei den Demonstrationen der letzten Wochen. Von widerrechtlichen Verhaftungen, die offiziell "Zuführungen" hießen. Von Demütigungen und Misshandlungen.

Einige äußerten Sorgen und Ängste vor möglichen Ausschreitungen am Sonnabend. Die Hauptstadt sei nicht "demonstrationssicher": die weiten Aufmarschalleen, die noch vor kurzem ganz anderen Demonstrationen galten, der riesige Alexanderplatz, der Hunderttausende aufnehmen konnte, aber nach Westen hin offen war, offen zum Sturm. Alles konnte allenfalls von Panzern in Schach gehalten werden, nie aber von der Polizei. Die Mauer war nicht weit weg; sie würde einem Ansturm von losgelassenen Menschenmassen nicht gewachsen sein. Man hatte ja Vorbilder im Westen!

Heiner Müller war’s recht, nicht mehr viel sagen zu müssen. Er empfahl als mögliche Kunst für die kommenden Zeiten das Becht’sche Lehrstück. Mit ihm könnten die Leute ihre eigenen Rollen durchspielen und sich und ihre geheimen Zwänge kennenlernen. Sie könnten aber auch erfahren, wie mit ihnen gespielt würde. Er stand auf, ging in die Restauration, verlangte Whisky. Alle brachen auf. Die "Lesung" war vorbei, und dies nach einer halben Stunde.

Am frühen Morgen des 4. November ging ich durch die leeren Straßen der Hauptstadt. Verwundert registrierte ich, dass die am Abend im Westfernsehen (wie es hier hieß) angekündigten 500.000 DDR-Bürger, die sich Fahrten nach Berlin erworben hätten, nicht längst die Bahnhöfe und vielleicht auch die Straßen füllten. Die S-Bahnhöfe, die ich von Pankow kommend abfuhr, waren nur mit wenigen Leuten besetzt – wie an einem gewöhnlichen Samstag, an dem die Leute ausschliefen. Vereinzelt kamen Leute mit Transparenten, noch zusammengewickelt und fast schamvoll nach unten gehalten, damit sich niemand an den Aufschriften stoßen konnte. Andere Frühaufsteher wie ich registrierten die potenziellen Demonstranten freundlich und mit Neugierde, beugten die Köpfe nach unten zu den Parolen, nickten, obwohl sie kaum etwas gelesen haben konnten. Es herrschte offenbar unausgesprochenes Einverständnis.

Ich fuhr zum Alexanderplatz und ging zum Zentrum der Bildenden Künstler, das mir Heiner Müller als Versammlungsort der verschiedenen Demonstrationsgruppen genannt hatte. Der Alex war noch leer. In Vierer- oder Fünfer-Gruppen standen Polizisten, genauer: Volkspolizisten, kurz: Vopos, in der November-Kälte. Sie hielten sich im Hintergrund, waren offenbar unsicher, wie sie sich verhalten sollten; sie kannten ihre neuen Rollen noch nicht. Brechts Lehrstücke wurden in der DDR nicht gelehrt; sie galten als "vulgärmarxistisch". Den Ordnungsdienst hatten die Veranstalter, federführend das Berliner Ensemble, selbst übernommen. Die Ordner trugen grün-gelbe Schärpen mit der Aufschrift: Keine Gewalt. Die Vopos durften, so die Abmachung, nur den Verkehr regeln; den gab es aber an diesem Morgen nicht.

Das Zentrum der Bildenden Künstler glich einer riesigen Requisitenkammer. Transparente, Papptafeln, Unmengen an Tapeten, beschrieben, unbeschrieben, bepinselt oder leer, lagerten an den Wänden und auf dem Boden; dazu Flugblätter und Resolutionen. Alle waren sich einig, die alten Zeiten der Gängelung der Künste, der Bevormundung allenthalben, waren vorbei. Trotzdem blieb die Stimmung verhalten, und für die neuen Herausforderungen fehlte die Übung. Man begrüßte alle Neuankömmlinge freundlich, zuversichtlich, aber auch mit Fragezeichen in den Gesichtern. Was heute geschah, war ungewöhnlich, im Junkie-Jargon: abartig. Aber wer weiß, wer sich alles unter die Demonstranten mischte. Man kannte nur einige persönlich. Wer waren die anderen? Trotzdem herrschte Zuversicht: Wir stehen vor einem historischen Datum – so oder so. Veränderung war jedenfalls angesagt. Wir sind dabei. Eine Papptafel trug die Aufschrift: Daß ich das noch erleben durfte!!!! Eine andere: Nur keine Gewalt!

9 Uhr. Wir gingen auf dem breiten Fußweg der Karl-Liebknecht-Straße zum Alex. Inzwischen herrschte Betrieb wie zu normalen Einkaufszeiten, nur dass wenige Autos fuhren. Der Busbetrieb war eingestellt. Wir liefen, inzwischen eine Gruppe von rund hundert Menschen, brav durch den unsäglichen Fußgängertunnel auf die andere Straßenseite dahin, wo der Fernsehturm stand. Mir fiel unwillkürlich Lenins zynischer Satz ein: Bevor sie einen Bahnhof besetzen, kaufen sich die deutschen Revolutionäre Bahnsteigkarten.

Treffpunkt war die Ecke gegenüber dem Hotel Stadt Berlin, in dem wir als offizielle Gäste des Ministerrats der DDR logierten: Suite mit zwei riesigen Fensterseiten. Da wusste ich noch nicht, dass wir später für die Kundgebung einen Logenplatz haben sollten. Die Transparente wurden entrollt, langsam, zögernd in die Höhe gehalten. Dann der Ruf: Auf die Straße! Die Demonstranten folgten mit vorsichtigem Schritt, als prüften sie noch das Terrain. Dann füllten sie wenigstens eine Straßenseite. Die Polizei sperrte endgültig die Straßen für jeglichen Autoverkehr: frei für die Demo.

Wo kamen sie auf einmal alle her? In wenigen Minuten, wie auf Pfiff, war die Straße voll. Aus der Richtung vom Prenzlauer Berg formierte sich ein unübersehbarer Menschenzug, der sich langsam in Richtung Unter den Linden in Bewegung setzte, erst wiederum zögernd, dann sicherer, selbstbewusster. Die Straße gehörte uns. Die Polizisten waren verschwunden, abgezogen? Versteckt? Vorwärts und nicht vergessen: / Wessen Straße ist die Straße? / Wessen Welt ist die Welt? Der Schlussrefrain von Brechts Solidaritätslied prangte groß von der Häuserwand des schrecklichen Betonsilos an der Karl-Liebknecht-Straße, von dem aus wir aufgebrochen waren.

Noch immer standen vereinzelt oder in kleinen Gruppen Menschen auf den Fußwegen, verwundert und unsicher, ob sie sich anschließen sollten oder besser nicht. Ein Mann verbarg seine Ratlosigkeit in mit markigen Gesten begleiteten Worten: Das ist nur eine Volksbelustigung, zum Lachen! Ich traf ihn später auf dem Alex wieder inmitten von Demonstranten. Er skandierte lachend die Sprechchöre mit wie: Stasi in die Produktion!

Mir wurde klar, der Demonstrationszug sollte einmal in größerem Bogen zum Alex geführt werden, damit er auch als gewaltige Demonstration – im Wortsinn – sichtbar würde. Wir bewegten uns folglich – vom Alex weg – auf den Palast der Republik zu, bogen dort nach links ab zu den Ministerien und von dort wieder am Roten Rathaus vorbei zum Alex zurück unter großen S-Bahn-Brücke hindurch. Vor mir fuhr ein Wagen mit einem riesigen Kleister-Kübel. Die leeren Tapeten, die ich bei den bildenden Künstlern wahrgenommen hatte, wurden mit Kleister an die Wände der Ministerien geklebt. Vom Tapetenwechsel hatte Kurt Hager gesprochen, als er die Moskauer Reformen Gorbatschows mit einer unangemessenen Metapher zuzukleistern versuchte. Nun erhielten sie die DDR-Oberen um ihre Wendehälse und Doppelköpfe geklebt.

Ein Schauspieler lief auf dem Fußweg, der jetzt frei für Aktionen war, mit einem Schild am Demonstrationszug entlang; seine Aufschrift: Blumen statt Krenze. Die Stimmung heiterte sich zusehends auf. Vor dem Ministerium für Kultur bekamen die selbst ernannten Oberen ebenfalls eine geklebt. Es gab Ovationen der Zustimmung.

Alle Bedenken begannen sich in zunehmender Heiterkeit aufzulösen. Wir wurden uns langsam sicher, heute würde kein Blut fließen. Die Kundgebung auf dem Alex, der sich nach widersprüchlichen Angaben mit einer Million Menschen gefüllt hatte (die DDR-Regierung "korrigierte" später auf höchstens 300.00-500.000), dauerte drei Stunden. Die Dramaturgie lag in den Händen (und Füßen) von Ulrich Mühe (er musste viel laufen, um Störungen oder auch Provokationen abzuwehren), und er führte sie klug, so klug, dass diese Demonstration kein Glück benötigte, um friedlich zu bleiben. Das hatten wohl auch die Regierenden bemerkt.

Mühe ließ nicht nur die Veranstalter zu Wort kommen, sondern auch die Regierungsvertreter, wohldosiert und in durchdachter Reihenfolge. 26 Rednerinnen und Redner sprachen. Keiner nutzte die Gunst der Stunde, aufzuwiegeln oder so abzuwiegeln, dass sich der Zorn der Massen entlüde. Der kleine Lastwagen, von dem aus die Reden gehalten wurden, war eben da positioniert, wo sonst die aufgedonnerten Tribünen standen, auf denen die alte Garde aus Wandlitz sich versammelte, um "ihr" Volk an sich vorbeiziehen und sich feiern zu lassen.

Heiner Müller sprach, obwohl er noch an jenem Abend versprochen hatte, nur auf das Podest zu treten, um zu sagen, dass er nichts zu sagen habe. Müller sprach doch, nachdem er mit Anstrengung die Treppe zum Podium auf dem LKW erklommen und sich verlegen hinter dem Ohr gekratzt hatte. Er begann stockend, nestelte an einem Papier, drehte es, das offenbar Kopf stand, auf die richtige Seite und las, Wort für Wort dehnend, einen Aufruf der "Initiative für unabhängige Gewerkschaften" vor und erntete Unmut. Obwohl er kaum zwei Minuten benötigte, erschienen seine Ausführungen, unterbrochen von Rufen Arbeiten! Aufhören! wie eine kleine Ewigkeit. Immerhin konnte sich sein "privates" Schlusswort hören lassen: Wenn in der nächsten Woche die Regierung zurücktreten sollte, darf auf Demonstrationen getanzt werden.

Den Schlusspunkt setzte die 82-jährige Schauspielerin Steffi Spira. Weniger, was sie sagte, vielmehr, wie sie es sagte, brachten ihr Jubel und Zustimmung und nicht zuletzt Sympathie ein. Aufrecht, aber doch lässig, mit der rechten Hand immer wieder ihre Worte skandierend, rezitierte sie Verse aus dem Lob der Dialektik von Bertolt Brecht, der als Lieferant von Parolen an diesem Tag allgegenwärtig war: So, wie es ist, bleibt es nicht / Wer noch lebt, sage nicht: niemals! / Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein? / Und aus Niemals wird: Heute noch. Steffi Spira sagte es so, als hätte man die Verse noch nie gehört. Die scheinbar abgeklapperten Sätze erhielten durch sie neuen Sinn, ungeahnte Aktualität, ideologiefrei, als einfache, aber doch abgründige Wahrheiten.

Auch ihren Abgang gestaltete Steffi Spira so, dass die – da noch – Regierenden sich an ihr ein Beispiel hätten nehmen können. Sie sagte ganz trocken und lapidar: Ich habe noch einen Vorschlag: Aus Wandlitz machen wir ein Altersheim! Die über 60- und 65-jährigen können jetzt schon dort wohnen bleiben – wenn sie das tun, was ich jetzt tue: Abtreten! Tosender Beifall begleitet ihren Abgang. Ihre Gestik besagte: Ich gehöre auch zu den Alten, ich habe alles gesagt, jetzt seid Ihr dran; macht was draus. Das hatte großen Stil – ohne Anmaßung, ohne Pomp.

Wie Heiner Müller versuchte auch Christa Wolf eine friedliche Umgestaltung der DDR von unten, von innen heraus zu propagieren, eine "revolutionäre Erneuerung", wie sie den angeblichen Aufbruch der Wendehälse benannte, die eine sozialistische und demokratische sein sollte – ohne den Weg in den Westen.

Der aber kam schon fünf Tage später, völlig überraschend, von niemand geahnt, durch ein Versehen eines verwirrten Funktionärs. Die offizielle Chronik der Deutschen führt den Tag des 9. November 1889 als den Tag der "friedlichen Revolution". Der 4. November spielt in dieser Chronik eine nur untergeordnete, wenn überhaupt noch eine Rolle. Ohne die Demonstration an diesem Samstag, die in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmalig war und diesmal wirklich "von unten" kam, wäre die Mauer nicht gefallen. Sie ebnete der Stimmung die Bahn, die einer kleinen Ursache die große Wirkung verschaffte.

Durch die Wahl des 3. Oktober als "Tag der deutschen Einheit" wurde auch der 9. November an den Rand der deutsche Geschichte gedrängt, das Datum, das schon einmal Geschichte geschrieben hatte, aber ideologisch nicht ins nationale Selbstverständnis "passte". Auch die Chance, unserer Nationalhymne endlich einen Text zu geben, der ohne die Auslassung ganzer Strophen hätten gesungen werden können, wurde nicht genutzt (er lag seit Gründung beider deutschen Staaten bereit). So blieben vom 4. November 1989 nur die Fragen Wessen ist die Straße? / Wessen Welt ist die Welt? stehen – sowie die Antwort, die der Holzverschlag an der Rednerbühne trug: Die Straße ist unsere Tribüne.

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