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Blick in die Geschichte Nr. 109

vom 4. Dezember 2015

Die Jägerstraße 1 in Durlach

Das Haus des Chirurgus

von Peter Güß

Obwohl sie gleich gegenüber der Karlsburg beginnt, war die Jägerstraße schon immer eine etwas verträumte Gasse, die Häuser von eher bescheidenem Zuschnitt und dicht aneinander gedrängt. Da fällt ein stattlicher Bau auf, der den ganzen Raum zwischen zwei parallelen Quergassen einnimmt, sodass er auf drei Seiten seine jeweils fünf Fensterachsen präsentieren kann. Ein in Durlach seltenes Mansardendach verleiht ihm zusätzliche Höhe. Vor allem aber überraschen zwei Elemente an dem schmalen Portal: die einzige lateinische Hausinschrift in Durlach auf dem Türsturz und darüber ein großes Wappen, das einen Mann mit Pfeil in der Hand zeigt. Beides gab lange Zeit Rätsel auf. Welcher Familie gehörte dies Wappen, und wer war der Erbauer I.G. auf der Inschrift?

Das Haus Jägerstraße 1 in Durlach im Jahr 2015

Den Schlüssel dazu liefert der Grabstein des 1696 verstorbenen Ortspfarrers von Niedereggenen im Markgräflerland in der dortigen Kirche, der genau jenes Wappen zeigt. Der lateinischen Inschrift ist zu entnehmen, dass der Stein 1723 errichtet wurde von seinem Sohn "Israel Gebhardus, Serenissimi Caroli Marchionis Bada Durlacensis Consiliarius et Protochirurgus". Israel Gebhard (= I.G.!), war also Rat (Hofrat) und erster Chirurg oder Leibchirurg von Markgraf Karl - dem Gründer Karlsruhes.

Text der lateinischen Inschrift auf dem Türsturz des Hauses Jägerstraße 1 in Durlach: AUXILIANTE DEO / GRATIA PRINCIPIS / MAGNOQUE LABORE AEDIFICARUNT ME I G & C B G ANNO DOMINI 1714

Zurück zur Hausinschrift: AUXILIANTE DEO / GRATIA PRINCIPIS / MAGNOQUE LABORE AEDIFICARUNT ME IG & CBG ANNO DOMINI 1714. Das Haus spricht hier selbst: Mich haben mit Gottes Hilfe dank der Gnade des Fürsten und mit großer Mühe Anno 1714 erbaut IG und CBG. Letzteres steht für Catharina Barbara Gebhard. Sie war eine geborene Föckler. Ihr verstorbener Vater war Stallmeister und Leibchirurg des Markgrafen Karl Gustav gewesen, der im kaiserlichen Militärdienst stand. Die Mutter, eine geborene Kiefer, stammte aus dem Grötzinger Wirtshaus zur Kanne und war eine Schwester der Frau von Johann Nikolaus von Nidda, dem sagenhaften Kannenwirt und Metzger in Grötzingen, Baulöwen sowie Finanzgenie. Als Frau Föckler schon früh, 1699, starb, nahmen sich die selbst kinderlosen Niddas der Föckler-Nachkommen an und statteten sie auch finanziell großzügig aus.

Was aber bedeutet konkret "gratia principis" - "dank der Gnade des Fürsten"? Die Antwort enthält der Freiheitsbrief Karl Wilhelms für Israel Gebhard vom 19. November 1714, in dem er ihm zusichert, "daß Wir ... sothane Behaußung Ihme Cammerdiener und Operatori Gebharden samt seiner Frauen, auch seinen Leibs Erben von dem Schatzungs- und Beeth-Ansatz (= Grund- und Kapitalsteuer) gäntzlich und gnädigst befreyet haben".

Wer war nun der Mann, dem der sonst eher sparsame Fürst solche Gunst erwies? Eine seltene Gelegenheit, über ihn und seine interessante Karriere einiges aus erster Hand zu erfahren, bietet sein Lebenslauf, der, größtenteils von ihm selbst vorformuliert, anlässlich seines Todes 1731 gedruckt wurde. Er kam zur Welt am 28. Januar 1677 in Niedereggenen in der Landgrafschaft Sausenburg, wo der Vater, Magister Jeremias Gebhard, Pfarrer war. Auch beide Großväter waren Pfarrer. Von daher hätte eine akademische Laufbahn nahegelegen. Aber im Badischen Oberland wüteten Kriege. Schon die Mutter musste sich statt mit gesunden Kindbett-Speisen "mit gefrohrnen Rüben" ernähren und das Neugeborene "mit ungeschmältzten Wasser-Breyen" aufziehen und es wegen der Kriegsgefahr "in dem Exilio herumschleppen", was sich bald wiederholte. Mit sechs Jahren verlor Israel die Mutter. Nach wiederholter Flucht brannte dann noch das Pfarrhaus ab mit allem Besitz, und der Vater verarmte dadurch so, dass an ein Studium des Sohnes nicht zu denken war.

Israel Gebhard absolvierte in Freiburg eine Lehre als Chirurg, ging dann "zu weiterer Perfectionierung in die Fremde" und hielt sich 3 Jahre "in auswärtigen Barbierstuben auf". Danach war es für den Außenseiter in diesem Gewerbe sicher am aussichtsreichsten, als Feldscher beim Militär unterzukommen. Es war ein schicksalhafter Entschluss. Denn 1701 machte ihn der damalige Erbprinz Carl Wilhelm zum "Compagnie-Feldscheerer" und schon nach einem Jahr zu seinem Kammerdiener und Leib-Chirurgen. In dieser Stellung bewährte er sich in acht Feldzügen, zwei Belagerungen und drei Feldschlachten.

Diese knappe Aussage sollten wir etwas genauer betrachten. Der Markgraf Carl Wilhelm ist uns gemeinhin in ausgesprochen friedlichem Ambiente vertraut, als Schloss- und Stadtgründer und Genießer von Tulpenbeeten und Opernsängerinnen. Dabei übersieht man leicht, dass er als Erbprinz sich jahrelang fast ausschließlich militärisch betätigte, ehrgeizig, draufgängerisch und geradezu verbissen. Das begann 1701 mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, an dem Baden-Durlach aufseiten des Kaisers, Englands und der Niederlande kämpfte gegen Frankreich, Spanien und bald auch Bayern. 1702 wurde Carl Wilhelm vor der Festung Landau verwundet, im Oktober war er bei Lörrach schon wieder dabei und wurde diesmal schwer verwundet. 1704 kam es zu der furchtbaren Schlacht bei Höchstädt mit über 10.000 Toten. In den nächsten Jahren ging es weiter mit Kämpfen an den Stollhofener Linien, Bau der Ettlinger Linien, Einfall ins Elsass, bis Carl Wilhelm durch einen schweren Sturz vom Pferd gestoppt wurde. Es ist klar, dass diese ereignisreichen gemeinsam verbrachten Jahre, in denen der Leib-Chirurgus für den mehrfach verwundeten Prinzen vielleicht der wichtigste Mann war, eine besondere Beziehung begründeten. Carl Wilhelm und Israel Gebhard waren und blieben alte Kriegskameraden.

So erklärt sich Gebhards erstaunliche berufliche Karriere. Schon 1703, als die Armee ohnehin nahe der Schweizer Grenze agierte, erbat und erhielt er einen Fortbildungsurlaub nach Bern, besonders um "die Operationes chirurgicas vollends zu begreifen". 1705 erhielt er eine Regimentsfeldscherstelle, die er bis zum Frieden 1714 neben seinen Pflichten bei Hof versah. Statt der militärischen bekam er danach die zivile Funktion eines "Land-Operators". Als 1709 Erbprinz Carl Wilhelm Markgraf wurde, machte er prompt seinen Leib-Chirurgen auch noch zum Ober-Cammerdiener. 1718 beehrte er ihn mit einer ungewöhnlichen Auszeichnung: er machte ihn zum "Ordensgarderobier" des neugegründeten exklusiven Baden-Durlachischen Hausordens der Treue. 1723 schließlich erfolgte die Ernennung zum Rat (Consiliarius). Seit 1705 war Israel Gebhard verheiratet. Der Hausbau im Jahr des Friedensschlusses 1714 markierte für das Ehepaar das Ende der unruhigen Soldatenzeit.

Um ein Bild zu bekommen, in welchem Personenkreis dieser aus dem Oberland unversehens nach Durlach verschlagene Mann sich bewegte, schaut man am besten nach, bei welchen Taufen er und seine Frau als Paten auftraten. Dabei wird klar, dass es nicht die Welt der Durlacher Bürger war, sondern der Kreis der am Hof Beschäftigten: andere Kammerdiener, Leibgardisten, ein Leib-Schneider, ein Mundkoch, ein Hofmusikus, der Hofgoldschmied Croll, der Bauinspektor Bazendorf und der Hofgärtner Sievert, der nicht nur für die Tulpenzucht zuständig war, sondern auch als hervorragender Blumenmaler an den berühmten Tulpenbüchern mitwirkte.

Über Gebhards ärztliche Tätigkeit lesen wir in dem Lebenslauf, dass er "solche glückliche Curen gethan, die Ihme zum unsterblichen Nach-Ruhm gereichen, dergestalten, daß nicht nur die ganze Stadt und dieses gesamte Land, sondern auch viele auswärtige Hohe und Niedrige seine frühzeitige Verwesung beklagen werden". Pfarrer Christoph Peter Eisenlohr hebt in der zweiten Leichenpredigt hervor, dass er sich besonders im studium anatomicum fortbildete. Auf diesem Gebiet hielt er öffentliche Collegia anatomica in Durlach "mit großem Applausu". Eisenlohr erlebte selbst als Hörer "die schöne Discourse, so Er bey Secirung derer Cadaverum geführet, da Er die verwunderliche Structuram Corporis humani gezeiget, wie der menschliche Leib aus Fleisch und Gebeinen, aus Musculen, nerven und Adern so künstlich zusammengefüget, wie artig sein Eingeweyd durcheinander postiret, wie alles aufeinandergehe, nicht anders, als die Rädlein in einer Uhr". Weiter rühmt Pfarrer Eisenlohr: "Israel Gebhard begnügte sich nicht nur mit gründlicher Chirurgie, sondern er kannte sich auch mit der Anwendung der Arzneien, Kräuter, Metalle, Mineralien usw. aus aufgrund seiner Erfahrung. Seine Erfolge damit bezeugen der Markgraf selbst, der ihn überallhin mitnahm, die Markgräfin, der Erbprinz und seine Frau."

Eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe erhielt er, als die Erbprinzessin 1728 unter seiner Oberaufsicht den künftigen Thronfolger Karl Friedrich zur Welt brachte. Es war eine außerordentlich schmerzhafte, 24stündige Geburt, erschwert durch widerspenstiges Verhalten der Mutter. Gebhard hat mit dem Protokoll darüber ein ganzes Heft gefüllt.

Seit Mitte der 1720er-Jahre war Israel Gebhard oft kränklich; es ist die Rede von seiner "zur Dörr- und Schwindsucht geneigten Natur" und einem Blutsturz. Trotzdem konnte er meist sein Amt bei Hof noch versehen, bis er am 12. Januar 1731 starb. Das Begräbnis fand in Karlsruhe statt; zwei Predigten wurden gehalten, die beide im Druck erschienen sind zusammen mit dem Lebenslauf und einer Anzahl von Gedichten zu diesem Anlass.

Die Ära Posselt

1733 heiratete die Witwe den im Jahr vorher verwitweten 40jährigen Diakon (d. h. zweiten Stadtpfarrer) Gottfried Posselt, der nun mit seinen Kindern in das Haus in der Jägerstraße einzog. Sie war aber schon krebskrank und starb bereits 1735. Ihr erster Mann hatte die Anzeichen schon bemerkt, auf eine Behandlung aber verzichtet, um den Krebs nicht zu "irritieren". Später wurde sie intensiv behandelt von den markgräflichen Leibärzten Dr. Lamprecht und Dr. Klose, unter anderem mit einer qualvollen Badekur in Langensteinbach.

Da die Gebhards keine lebenden Nachkommen hatten, erbte Posselt den größten Teil ihres Vermögens, vor allem aber das Haus, und übernahm auch das gebhardsche Wappen für seine Familie. Catharina Barbara Gebhard-Posselt war eine wohlhabende Frau gewesen, was dem so schnell erbenden Witwer viel missgünstige Nachrede einbrachte.

Gottfried Posselt, 1693 bei Zittau in der Lausitz geboren und 1715 als mittelloser Pfarrkandidat am Wanderstab nach Durlach gekommen, war nun alleiniger Hausherr in der Jägerstraße und wohnte da bis zu seinem Tod 1768, also 35 Jahre. Mit drei Kindern brauchte er baldigst wieder eine Hausfrau; so heiratete er 1737 zum dritten Mal, klagte aber bald darüber, dass diese Frau weder mit dem Hauswesen noch mit den Dienstboten noch mit den Kindern zurechtkam. Es wurden noch sieben Kinder geboren, von denen vier an den Kindsblattern starben. Die Erziehung der Kinder folgte dem bewährten Muster: die Knaben gingen auf Gymnasium und Universität, die Mädchen lernten Haushalt und Pflege. Bei der letzten Tochter scheint Posselt dazugelernt zu haben: er konzedierte Klavier- und sogar den sittlich bedenklichen Französischunterricht.

Von den vier Söhnen ist vor allem der älteste, Philipp Daniel, bemerkenswert. Schon am Pädagogium absoluter Spitzenschüler, machte er nach dem Jurastudium im Karlsruher Hofkanzleidienst Karriere und war schließlich viele Jahre lang Oberamtmann in Durlach, außerdem Vater des noch berühmteren Juristen, Historikers und Publizisten Ernst Ludwig Posselt, der in Durlach mit der Posseltstraße geehrt ist.

1742 avancierte Gottfried Posselt zum ersten Stadtpfarrer, 1763 noch zum Kirchenrat. Nach seinem Tod 1768 bewohnte seine Witwe das Haus noch längere Zeit. 1800 war es im Besitz des Oboisten August Unger, später seines Sohnes, des Kaufmanns Friedrich Unger. 1858 wurde es aus dem Nachlass dieses Kaufmanns versteigert. Damit begann für dieses Haus das Jahrhundert der Bäcker. Genannt werden die Bäcker Gallus Leppert, August Postweiler, Jakob Müller und sein Sohn Eduard Müller und zuletzt, in den 1960er-Jahren, die Bäckerei Rothermel. Der Laden befand sich in der Nordostecke, mit Schaufenstern nach beiden Seiten. Außerdem gab es im Erdgeschoss eine Mehlstube und eine Backstube. Natürlich bewohnten das Haus zugleich zahlreiche wechselnde Mietsparteien.

Ein ehrgeiziger Restaurierungsversuch in den 1970er-Jahren scheiterte an den Finanzen. Danach verfiel das Haus zusehends, bis es 1980 von einer Immobilienfirma gekauft wurde, die es entkernte und im Innern modernisierte unter Verlust des Innenhofes mit Laubengängen. Außen erfreut uns immerhin eine sorgfältig restaurierte Fassade.

Dr. Peter Güß, Historiker, StDir. i.R.

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