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Blick in die Geschichte Nr. 110

vom 18. März 2016

Aus den Krankenakten von Karlsruher Euthanasieopfern

Den Ermordeten Geschichte und Würde zurückgeben 

von Andrea Sauermost und Mathias Tröndle

Auf dem Hauptfriedhof erinnert neben dem "Tor des Schmerzes" und dem Mahnmal jetzt auch eine Infotafel an das Schicksal der Euthanasieopfer. Und vier der für Opfer des Nationalsozialismus vor deren letztem Wohnsitz verlegten Stolpersteine bringen seit einigen Jahren Namen und Schicksalsdaten von zwischen 1939 und 1945 ermordeten Karlsruherinnen und Karlsruhern mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung zurück ins Gedächtnis der Stadt. Auf Initiative des Fördervereins Stadtgeschichte mit der Karlsruher Lebenshilfe, der Evangelischen und Katholischen Kirche sowie des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie" erweitert der Künstler Gunter Demnig am 18. März sein dezentrales Flächendenkmal in Karlsruhe um 15 Stolpersteine. Die gelten allesamt aus Karlsruhe stammenden Opfern der Euthanasie.

Dem Vergessen entreißen: Auf dem Ehrenfeld B2 des Hauptfriedhofs informiert seit 2016 eine Tafel über das Schicksal der Euthanasieopfer

"Entlassen" war das Todesurteil

Recherchen in Krankenakten von psychiatrischen Anstalten im Bundesarchiv in Berlin und in Polizeiakten im Karlsruher Stadtarchiv brachten ein wenig Licht in das bisher verschwiegene Schicksal dieser Opfer. Etwa in das von Bertha Fritz, die vor ihrer Einweisung in die Kreispflegeanstalt Hub im Mai 1938 in der Schützenstraße 37 gemeldet war. "Idiotie bei rachitischem Zwergenwuchs" lautete die Diagnose im damaligen Jargon der Psychiatrie. Die bei ihrer Aufnahme in die Hub nur 113 Zentimeter große und 30 Kilogramm schwere, 29-jährige Frau sei stark verkrüppelt, wisse sich aber "verständlich zu machen" und habe "einen zutraulichen und gutmütigen Charakter". Als Grund für die Unterbringung geben die Akten an, "Bertele" könne sich nicht selbst ernähren und sei bei ihrem Vater, einem "vertrottelten Alkoholiker", in Gefahr. Ihren Unterhalt bettelte sich Bertha in Markthallen und Wirtschaften zusammen. Sie blieb zwei Jahre lang in der Hub. Ihre Krankenakte schließt am 19. Juni 1940 mit einem lapidaren "Entlassen". Dieser Vermerk war das Todesurteil. Sie wurde wenig später in Grafeneck vergast.

Wie Sophie Hahn, die am 17. Juni 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck umgebracht wurde. Akten des Karlsruher Polizeipräsidiums berichten, dass die in der Humboldstraße 28 lebende Kontoristin den Straßenverkehr "aufgrund von Falschfahren und Angaben falscher Personalien" gefährdet habe. Sophie Hahn litt unter Verfolgungswahn, war mehrfach in der Badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau und wurde 1932 entmündigt. 1935 wurde sie nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zwangssterilisiert, 1936 wieder in die Illenau eingewiesen und 1938 in die Heil- und Pflegeanstalt Konstanz verlegt. Am 17. Juni 1940 wurde Sophie Hahn ebenfalls in Grafeneck ermordet.

Hannelore Helmle wurde nur zwölf Jahre alt. Sie war eine Frühgeburt, entwickelte sich zögerlich, litt an Krämpfen, Lungenentzündung und Gelbsucht. Eine Schule besuchte sie wegen "Bildungsunfähigkeit" nie. Am 20. August 1938 wurde sie als Zehnjährige vom Elternhaus im Rüppurrer Ligusterweg 1 in die Erziehungs- und Pflegeanstalt Mosbach gebracht. Die Krankenakten sprechen von "unheilbarer Idiotie", "motorischer Dauerunruhe" und "chronischem Zerstörungstrieb". Am 17. September 1940 wurde sie nach Grafeneck deportiert.

Der Stolperstein vor dem Haus in der Werderstraße 91 erinnert an das Karlsruher Euthanasieopfer Hedwig Kühn

Jeder Achte mit Euthanasieopfer verwandt

Das Schicksal dieser drei Ermordeten steht für das von über 450 Karlsruherinnen und Karlsruhern, die wegen ihrer Behinderung oder psychischen Erkrankung zwischen 1939 und 1945 von den Nationalsozialisten umgebracht wurden. In der NS-Ideologie waren Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung "Ballastexistenzen", lagen der Volkswirtschaft unnötig auf der Tasche, mussten weg. Allein bei der Aktion "T4" töteten die Nationalsozialisten von 1940 bis 1941 mehr als 70.000 Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten im gesamten Deutschen Reich durch Gas. Zu den sechs Tötungsanstalten gehörte Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Dort fanden 10.650 Menschen ihren grausamen Tod. Diese Opfer des Nationalsozialismus stammten allesamt aus der Mitte der Gesellschaft - den deutschen Familien - und sind dennoch bis heute weitgehend vergessen oder verschwiegen. Nach dem Zeithistoriker und Publizisten Götz Aly ist jeder achte Erwachsene in Deutschland in direkter Linie mit einem Menschen verwandt, der der Euthanasie zum Opfer fiel. Doch dessen Geschichte laste in der Familie, so Aly, als "ein mit Scham besetztes Geheimnis, über das man besser nicht spricht".

Den Boden für die Ermordung "lebensunwerten Lebens", bereiteten rassenhygienische Diskussionen, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa geführt wurden und mit liberal- sozialistischen Überlegungen zu selbstbestimmtem Sterben in den 1920er-Jahren angereichert wurden. Federführend waren hier damalige Reformpsychiater, die der Überzeugung waren, dass man, um sich angemessen den heilbaren Kranken widmen zu können, die Unheilbaren beseitigen müsse. Hitler selbst leiteten bei der Planung der Euthanasiemorde weniger erbhygienische als wirtschaftliche Gründe.

Scham und wirtschaftliche Not

Eine wichtige Frage auf dem Erhebungsbogen, den die Nationalsozialisten 1939 an Anstalten und Kliniken zur Erfassung der zu Tötenden sandten, betraf den Kontakt der Kranken und Behinderten zu ihren Angehörigen. Die Nationalsozialisten wollten wissen, wie oft und von wem die Betroffenen Besuch erhielten. Je enger der Kontakt zur Familie, umso unwahrscheinlicher war es, dass diese Patienten Opfer der Gaskammer wurden. Denn bei der Aktion "T4" - benannt nach der in der Tiergartenstraße 4 in Berlin untergebrachte Bürozentrale für die Leitung der Ermordung behinderter Menschen im Deutschen Reich - galt es, Verdacht oder gar Widerstand aus den Familien der Opfer erst gar nicht aufkommen zu lassen. Dies gelang in den meisten Fällen. Ein Grund dafür war, dass die Opfer ausschließlich aus Heil- und Pflegeanstalten in die Gaskammern deportiert wurden. Die wenigen, die in ihren Familien lebten, blieben verschont. Von den Anstaltsinsassen, die Opfer der Euthanasie wurden, hatten laut Aly nur 19 Prozent Kontakt zu ihrer Familie. Entscheidend für das Ausbleiben von Protest aber war letztlich die Lebenssituation in den Familien selbst: Ein behindertes Kind war nicht nur mit Scham, sondern auch mit wirtschaftlichen Einbußen verknüpft: Eine "erbkranke" Familie erhielt vom Staat keinerlei Hilfen, Kindergeld wurde gestrichen. Bereits 1920 gaben 73 Prozent der Eltern bei einer Befragung durch die sächsische Landespflegeanstalt an, in die "schmerzlose Abkürzung des Lebens ihre Kinder" einzuwilligen.

Dieses in der Gesellschaft verbreitete Gedankengut nutzten die Nationalsozialisten im Rahmen der Aktion T4 für ihre diabolische Maschinerie. Nach Erfassung der "unheilbar Kranken" wurden diese systematisch aus den Kliniken in Tötungsanstalten wie Grafeneck deportiert. In grauen Bussen kamen dort täglich Dutzende Kinder, Frauen und Männer mit Behinderung an, wurden noch am selben Tag vergast. Die Angehörigen erhielten später die Urne mit der Asche der Ermordeten und ein Anschreiben über die angebliche Todesursache, die von Lungenentzündung bis Tuberkulose reichte. Nur 500 bis 600 Deportierte wurden kurz vor der Gaskammer vor ihrem gewaltsamen Tod bewahrt, weil misstrauisch gewordene Angehörige nach ihnen gefragt hatten.

Schicksale in Familien aufarbeiten

Im Sommer 1941 stoppte die Aktion T4 auf einen Schlag. Aus zwei Gründen: Zum einen hatte der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen in Predigten die Gläubigen mit dem durchgesickerten Grauen konfrontiert. Zum anderen hatten die Nationalsozialisten den Testlauf für den Massenmord durch Gas abgeschlossen, der später in den Vernichtungslagern im Osten Millionen Menschen das Leben kostete. Die Ermordung chronisch Kranker und Behinderter ging jetzt in den Anstalten weiter. Bis 1945 starben 130.000 Insassen an Hunger, Unterkühlung oder Übermedikamentierung.

Erst Jahrzehnte später begann in Deutschland die Aufarbeitung der Gräueltaten. Gedenkstätten entstanden an den Orten der Tötungsanstalten, 2014 wurde das Denkmal für die Euthanasieopfer an der Berliner Tiergartenstraße 4 eröffnet. Auf Friedhöfen erinnern Mahnmale an die Opfer, Stolpersteine in den Straßen der Städte. Damit und vor allem mit der Aufarbeitung der Schicksale in den Familien kann es gelingen, diesen Menschen ihre Geschichte, ihre Würde zurückzugeben, sie wieder auf ihren angestammten Platz in der Mitte der Gesellschaft zu holen.

Andrea Sauermost, Verein Lebenshilfe Karlsruhe, Ettlingen und Umgebung e. V.

Mathias Tröndle, Historiker, Redakteur

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