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Blick in die Geschichte Nr. 113

vom 16. Dezember 2016

Bertolt Brecht und Karlsruhe?

Großmutters Ausflug zum Pferderennen nach K.

von Jan Knopf

Meine Geschichte beginnt Anfang der 1970er-Jahre, als ich meine Dissertation über die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel und Bertolt Brecht in Göttingen schrieb, nicht ahnend, dass ich bald darauf an der Universität Karlsruhe arbeiten sollte, die damals noch stolz das "TH", als die älteste deutsche Technische Hochschule, im Titel trug. Brecht schrieb 1939 im schwedischen Exil die Erzählung "Die unwürdige Greisin", die der französische Germanist Robert Minder in einem berühmt gewordenen Aufsatz als die "wiedergefundene Großmutter" des Autors würdigte. Tatsächlich spielt die Erzählung "in einem badischen Städtchen", und der Ehemann der alten Frau besitzt "eine kleine Lithographenanstalt". Unschwer waren Brechts Großvater Stephan Berthold Brecht (1839-1910) und seine Frau Karoline Brecht, geb. Wurzler (1839-1919) zu erkennen, die in Achern eine Druckerei betrieben. Das Haus am Markt ist bis heute erhalten, trägt auch eine Tafel, die an den Dichter erinnert. Ansonsten jedoch konnte sich der Ort mit dem Autor nicht weiter anfreunden.

Die nächste Station meiner Geschichte bildet die Pressekonferenz zur "Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe" der Werke Brechts in 30 Bänden in Berlin, damals noch in der "Hauptstadt der DDR", jetzt Berlin-Mitte. Das war im Jahr 1985. Das Projekt, das vorgestellt wurde, galt angesichts der deutschen Teilung, angesichts des in Ost und West - und nicht nur in Deutschland - umstrittenen »kommunistischen Dichters« als «kulturpolitische Sensation«. Zwei Verlage - Suhrkamp Frankfurt a. M. und Aufbau Berlin/Ost - und zwei Herausgeber-Gremien in Berlin/Ost sowie in Tübingen/Karlsruhe arbeiteten zusammen, sozusagen über die Mauer hinweg, um erstmals eine zuverlässige Ausgabe des deutsch-deutschen Dichters vorzulegen. Es war wie eine vorweggenommene Wiedervereinigung Deutschlands auf dem Gebiet der Literatur, und dann noch mit diesem Autor.

Es gab weltweit Berichte über das "Jahrhundertereignis", unter anderem in der Wochenzeitung, DIE ZEIT, und da konnte sich der Berichterstatter nicht damit anfreunden, dass Karlsruhe irgendetwas mit dem Projekt zu tun haben könnte, und versetzte mich kurzerhand nach Mannheim. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich durchforstete nochmals Brechts Werk, um eine Legitimation für meinen Standort zu finden, und fand ihn auch, in eben dieser Geschichte von der Greisin, die nach dem Tod ihres Mannes aus der Rolle der Hausfrau, Mutter, Großmutter ausbricht und die zwei Jahre, die ihr noch bleiben, ihr eigenes Leben beginnt. Sie hält sich nicht mehr an die überkommenen Regeln, nämlich die Großmutter fürs Grobe im Dienst nun der eigenen Kinder zu spielen, und alle finden das skandalös und die alte Dame als "unwürdig". Sie geht ins Kino, was damals noch anrüchig war; sie freundet sich mit einer jungen Frau an, die keinen guten Ruf hat; sie trinkt Rotwein bei einem Sozialdemokraten, was damals noch als Umgang mit staatsgefährdenden Kreisen galt; sie macht Ausflüge in einer Bregg, einer vierspännigen Kutsche, die sich nur Großbürger leisteten; und - der Höhepunkt - sie fährt mit der Eisenbahn "nach K., einer größeren Stadt, etwa zwei Eisenbahnstunden entfernt".

Ich schrieb also dem zuständigen Redakteur der ZEIT, Rolf Michaelis, dass Karlsruhe in Brechts Gesamtwerk immerhin ein einziges Mal vorkomme und ich so legitimiert sei, in Karlsruhe an ihm zu arbeiten. Michaelis rückte dies als Glosse unter der Überschrift "Brecht und die Großstadt Karlsruhe" in die nächste Ausgabe ein, und gab so der Hoffnung Ausdruck, dass sich Karlsruhe mit Brecht doch noch anfreunden könnte.

Die dritte Station markiert, dass Hansgeorg Schmidt-Bergmann, der Leiter der Literarischen Gesellschaft, die Notwendigkeit sah, nach etwa zweihundert Jahren wieder eine Gesamtausgabe Johann Peter Hebels zu verlegen. Weltweit ist zwar eine unübersehbare Menge von Einzelausgaben seiner Werke verbreitet, eine zuverlässige Edition seines Gesamtwerks liegt jedoch nicht vor. Also ereilte mich der zweite Autor meines Göttinger Ausgangspunkts, und dies wieder mit einer Werkausgabe, deren Notwendigkeit ich sofort einsah, weil Karlsruhe auch mit diesem Dichter seine Schwierigkeiten hat und der Weltautor, den seine Heimat nicht angemessen würdigt, seine Bedeutung wieder erhalten soll.

Hebel gilt immer noch als Heimatdichter in einem Lebensraum, in dem man sich wohl und sicher fühlt, wie es die jüngste Werbung für die "Heimat als Verbraucherschlager" für die "Heimattage 2017" formuliert. Hebels heutiger Lebensraum, übrigens ein Begriff der Nazis für ihre Eroberungsgebiete, das heißt, der Lebensraum seines Karlsruher Denkmals im Schlosspark war 2015, zum 300jährigen Jubiläum der Stadt, sinnigerweise mit einem geschlossenen Kreis von stinkenden TOI-TOI-Buden, auch genannt: DIXI-Klos, umstellt.

Die erneute Lektüre Hebels führte, wie sollte es anders sein, auch wieder hinein in die Wirkung, die sein Werk nachhaltig erzielte: bei Goethe, Kafka, bei Ernst Bloch, bei Walter Benjamin und, unter vielen anderen, bei Brecht. Nachdem ich jetzt ein wenig genauer vertraut war mit den Gefilden, die als Hebels Heimat gelten und an denen Brecht mit den Großeltern in Achern irgendwie Anteil haben musste, stutzte ich über den Grund, den die Großmutter hatte, ausgerechnet nach K. zu fahren. Im Text heißt es: "Dort war ein Pferderennen, und zu dem Pferderennen fuhr meine Großmutter".

Ich fand, Karlsruhe und Pferderennen sind nicht gerade typisch füreinander. Die Rennbahn in Knielingen gab es meines Wissens noch nicht, wäre aber auch nicht in Frage gekommen. Die Frau fuhr mit der Eisenbahn, und die Verbindung führte von Achern nach Ettlingen-West und dann, womöglich mit Umsteigen, über die neue Trasse der später so genannten Albtalbahn nach Karlsruhe über Rüppurr, das "Dorf mit Großstadt", wie es sich heute nennt, in die "größere Stadt K.".

Von Brecht, Jahrgang 1898, ist bekannt, dass er als Schüler in den Sommerferien in Achern bei den Großeltern einquartiert wurde. Viel mehr wissen wir nicht. Immerhin führten die Aufenthalte dazu, dass sich der junge Brecht als einen Schwarzwälder outete: "Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern", sich folglich irgendwie mit der "Heimat" seiner Großeltern identifizierte, wenn auch Achern nur bedingt dem Schwarzwald zuzuordnen ist und auch die schwarzen Wälder nicht unbedingt den Schwarzwald meinen müssen. Davon mal abgesehen, dürfte aber das Kind einiges aus der Umgebung mitbekommen haben. Dass Brecht aus der Erinnerung die alte Dame ausgerechnet zum Pferderennen aufbrechen lässt, liegt ganz in diesem Erfahrungsbereich. Als immerhin gut situierter Bürger der Stadt Achern mit einem stattlichen Haus am Markt dürfte für Großvater Brecht ein sonntäglicher Ausflug zum Pferderennen als willkommene Abwechslung nahegelegen haben. Ob nun die Großeltern oder nur der Vater wirklich dahin fuhren oder der Knabe nur davon hörte, K. verband sich für ihn ganz offenbar mit Pferderennen. Bloß, wo fand das statt?

Die vierte Station regierte wieder ein Zufall, besser: regierten Zufälle. Ich stieß beim Recherchieren auf einen Grillplatz, der sich noch heute nach einer »Rennwiese« nennt, und, schaut man auf dem Plan nach, tatsächlich an einer Gemarkung liegt, die als »Rennwiese« ausgezeichnet ist. Sie liegt heute östlich der Areale vom Postsportverein und des FC Südstern. Der Mittelbruchgraben geht mitten hindurch. Weiter ging's mit einer Antiquariatsanzeige eines "Taschenbuchs der gesammten (!) Pferdekunde" von 1878 (4. Auflage), in das der ehemalige Besitzer das Programm eines Renntags einlegte: "Propositionen für die auf dem Rennplatz bei Klein-Rüppurr am Sonntag, den 25. Juli 1909 nachmittag 3 Uhr stattfindenden Rennen", das heißt, es gab zumindest einen Totalisator für die Wetten. Die Rennbahn für das Karlsruher Pferderennen war gefunden. Die Zeit stimmt; Brecht war zu dieser Zeit elf Jahre alt und verbrachte seine Ferien in Achern. Die Möglichkeit, dass er davon hörte oder die Großeltern gar nach K. zum Rennen fuhren, ist nicht mehr ausgeschlossen, gewinnt sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Denn in diesen Zeiten waren solche Renntage noch Großereignisse, die auch in Achern wahrgenommen wurden.

Werbung für die Pferderennen in Klein-Rüppurr 1913

Meine weiteren Recherchen in den Karlsruher Chroniken, in den diversen Publikationen der Rüppurrer Bürgergemeinschaft, in einschlägigen Vereinsgeschichten schlugen fehl, auch wenn ich jetzt endlich wusste, dass es neben Rüppurr ein Klein-Rüppurr gab und dieses den wenig besiedelten Teil um das ehemalige Schloss Rüppurr sowie die noch heute erhaltene Mühle als eigene Ortschaft oder Gemarkung bezeichnete. Nach einer alten Ansicht von 1580, noch mit Schloss, lag Klein-Rüppurr nicht nur an der Alb, sondern auch an einem See in westlicher Richtung, dem heutigen Gebiet der Gärtnerei, der anschließenden Felder und des Freibads.

Damit aber nicht genug. In Band 28 der Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, der dem Sport gewidmet ist, weist Anke Mührenbergs Beitrag über den Reitsport nach, dass auch 1910 und 1913 zweimal jährlich Renntage stattfanden, sodass - mit dem Fund des Programmzettels von 1909 - davon ausgegangen werden kann, dass sie alljährlich bis zum Beginn des Kriegs 1914 veranstaltet wurden. Im Band findet sich zudem die Ansicht einer Tribüne, die der militärische Reiterverein Karlsruhe, der als Verantwortlicher zeichnete, 1909 in Auftrag gegeben haben soll.

Plan für den Bau einer Tribüne auf den Rüppurrer Rennwiesen aus dem Jahr 1909

Es kommt noch dicker. Aus einem Bericht der "Badischen Presse" vom 4. Juli 1914 geht hervor, dass "auf den Wiesen östlich der Ettlinger Straße", dem ehemaligen Klein-Rüppurr, ein "Fest- und Spielplatz" errichtet werden und nicht weniger als 37.500 qm umfassen sollte. Weil der Mittelbruchgraben störte, war seine Verlegung vorgesehen. Nach dem Bericht waren bereits mindestens eine Tribüne, ein Sattelplatz sowie ein Totalisator neben der eigentlichen Rennbahn im Sommer 1914 ebenda vorhanden. Geplant waren eine weitere Tribüne, großzügige Umkleideräume, Toilettenanlagen, Garten-Wirtschaften und Spielplätze für die Kinder.

Ich breche hier ab, verweise nur noch darauf, dass der Rennplatz an der Rennwiese nach dem Ersten Weltkrieg reaktiviert wurde und da noch mit Tribüne, Sattelplatz, Wirtschaft ausgestattet war. Nach dem Bericht der "Karlsruher Wochenschau", die mir Ernst Otto Bräunche aus dem Stadtarchiv auf meine Anfrage zur Verfügung stellte, leitete der Karlsruher Rennverein am 30. Juni 1929 eine Renaissance des Karlsruher Rennsports ebenda ein. Der Verein, so heißt es da, baue "das wieder auf, was die Kriegsjahre zerstörten, und bald wird der alte Ruhm des Karlsruher Rennplatzes wieder im alten Glanz erstrahlen". Merkwürdig, dass dieser Glanz so gar keinen Abglanz in der Geschichte von K. hinterließ. Brauchte es dazu erst die unwürdige Greisin Brechts?

Nachbemerkung

Für mich als Hebel- und Brecht-Herausgeber belegen die hier mitgeteilten, freilich nur zufälligen Neuigkeiten, dass die Verbindung des jüngeren zum älteren Dichter doch enger sein dürften, als es die beiden direkten Belege bei Brecht - immerhin das Doppelte gegenüber dem einen für BB und K. - nahelegen. In einem Aufsatz über den "Materialwert" der Klassiker für die modernen Dichter machte sich Brecht unter anderem über Friedrich Hebbels "Herodes und Mariamne" lustig und versah den Autor mit den Vornamen Hebels. Und 1921 plante der junge Brecht einen Gedichtband mit dem Titel "Schmatzkästlein des schweinischen Hausfreundes". Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte Brecht als erstes gedrucktes Buch seine "Kalendergeschichten" heraus, um seinen Landsleuten nach den Blut-und Boden-Zeiten den Spiegel mit Johann Peter Hebel vorzuhalten: Heimat lässt sich nur über die heimische Verfremdung erfahren, und dazu muss man sich, wie Hebel seine geneigten Leser aufforderte, auf Weltreise begeben. Mit etwas Glück kommt man am Ausgangspunkt wieder an, "und hat das Ende der Welt nicht gesehen".

Prof. Dr. Jan Knopf, Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB) an der Universität Karlsruhe

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