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Blick in die Geschichte Nr. 113

vom 16. Dezember 2016

"Mehr sein als scheinen …"

Reste von Handschriften als Einbände von Amtsbüchern

von Gregor Patt

Jeder, der sich schon einmal mit der Kunstgeschichte des Mittelalters beschäftigt hat, kennt sie: Die prachtvollen, aufwendig illustrierten Handschriften, die einen Eindruck von einem in vielem überaus ungewohnten, dem Menschen des 21. Jahrhunderts kaum mehr verständlichen Umgang mit Büchern vermitteln. Ein Blick auf die aufwendig illustrierte Seite eines Missale vom Beginn des 16. Jahrhunderts genügt, um zu verstehen, dass das unter großer Mühe mit der Hand abgeschriebene Buch anders benutzt wurde, als es dem Käufer eines Fischer-Taschenbuchs oder gar der kindle-Version des letzten Dan Brown-Krimis auch nur im entferntesten bewusst ist. Am ehesten ist wohl noch an die ledergebundenen Fassungen des Brockhaus zu denken, die scheinbar unverwüstlich nach wie vor die Wohnzimmerregale schmücken: Das Buch kann und darf nicht auf seinen Inhalt reduziert werden; es hatte und hat oft auch eine repräsentative Funktion.

Aus dem Kloster Haina oder Altenberg stammt diese reich bebilderte Seite eines Missale aus dem 1. Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts

"Recycling" veralteter Handschriften

Es vermag kaum zu überraschen, dass diese Funktion im Mittelalter vor allem bei Büchern von herausragender Bedeutung war, die bei der Feier des Gottesdienstes Verwendung fanden. Im Rahmen der Messe und des Stundengebets ging es nicht nur darum, dass der (Vor-) Betende die Texte inhaltlich korrekt vortrug; mindestens ebenso wichtig war, dass das Schriftstück - wie auch der Kirchenbau, die Kleidung der Beteiligten und die liturgischen Geräte - der "Ehre des Höchsten" angemessen gestaltet war.

Leuchtet es somit ein, dass die liturgischen Bücher von anderer Qualität als gewöhnliche Schriftstücke waren, so gilt Gleiches auch für ihre Zahl: Bücher, die für den Gebrauch im Gottesdienst vorgesehen waren, machten insgesamt einen hohen Anteil dessen aus, was überhaupt produziert wurde.

Ein Blick auf die liturgischen Bücher zeigt zugleich, dass die mittelalterliche Gesellschaft alles andere als statisch war. Die liturgischen Werke waren sowohl inhaltlich, als auch in Hinblick auf ihr Layout und ihre Gestaltung Moden unterworfen. Ein Buch, das um 1400 noch geeignet erschien, um eine Messe zu singen, konnte um 1500 bereits veraltet sein. Nichts lag daher näher, als liturgische Bücher von Zeit zu Zeit auszutauschen und durch neue zu ersetzen. Auf diese Art und Weise ging ein Großteil der Bücher verloren, die im Mittelalter tatsächlich täglich konsultiert wurden. Für Archivare, Bibliothekare und Historiker erweist es sich vor diesem Hintergrund als Glücksfall, dass der Stoff, aus dem ein Großteil der mittelalterlichen Bücher gefertigt war - das aus Tierhaut hergestellte Pergament -, so teuer und wertvoll war, dass Buchbinder sich bemühten, Abfälle zu "recyceln". Wenn es darum ging, ein neues Buch einzuschlagen, bediente man sich oft der Überreste eines ausrangierten liturgischen Werks.

Die Einbände von drei Durlacher Pfundbüchern

Ebendies geschah Mitte des 16. Jahrhunderts auch in Durlach. Der Magistrat der Stadt bemühte sich, Steuerlast und Vermögensverhältnisse ihrer Bürger zu erfassen und legte zu diesem Zweck für jedes Jahr ein sogenanntes "Pfundbuch" an. Beim Versuch die Ausgaben für die Jahre 1533, 1539 und 1562 zu binden, griff der Buchbinder auf die Überreste von zwei liturgischen Büchern zurück. Zum einen handelt es sich um ein sogenanntes Antiphonar. In einem solchen Buch finden sich die Gesänge, Texte und Gebete, die Mönche und andere Geistliche fünf bis siebenmal pro Tag während des Stundengebets beteten. Bei der Bearbeitung des Pfundbuchs zu 1562 griff der Buchbinder dabei ganz offensichtlich auf zwei mehr oder weniger nebeneinander befindliche Blätter zurück, die es uns ermöglichen, nachzuvollziehen, welche Gebete und Gesänge in der Woche nach Pfingsten "an der Reihe waren". So sang man z.B. zum Nachtgebet den Gesang "Plötzlich kam ein Geräusch vom Himmel" (Factus est repente). Vergleicht man die Noten, mit der "aktuellen" Fassung, die man ohne weiteres auf Youtube anhören kann, so bedarf es keiner vertieften musikwissenschaftlichen Kenntnisse, um nachvollziehen zu können, dass die Durlacher Fassung deutlich von der heute gesungenen Version abwich. Die Reste eines Bucheinbands aus dem Stadtarchiv erlauben somit Einblicke in das "musikalische" Leben vor über 600 Jahren!

Reste eines sogenannten Antiphonars mit einem Gesang zum Nachtgebet vom Einband eines Durlacher Pfundbuchs aus dem Jahr 1562
Reste eines Messbuchs vom Einband eines Durlacher Pfundbuchs aus den 1530er-Jahren; markiert sind die Bibelstellen Römer 6,3-8; Matthäus 5,20-24; Markus 10,17-20; Galaterbrief 5,16-24
Reste eines Messbuchs vom Einband eines Durlacher Pfundbuchs aus den 1530er-Jahren; markiert sind die Bibelstellen Kolosserbrief 1,12-18 und Matthäus 6,24-33

Beim Einbinden der beiden Pfundbücher aus den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts wurden Reste eines sogenannten Missale (Messbuch) wiederverwendet. Im Messbuch finden sich alle Texte, die der Priester während der Messe vorlesen muss. Im vorliegenden Fall lassen die enthaltenen Texte und Bibelstellen darauf schließen, dass es sich größtenteils um Texte handelt, die vier bis sechs Wochen nach Pfingsten zu beten waren. Anhand der Schrift erkennt der Archivar, dass das Missale vermutlich einige Jahrzehnte früher als das Antiphonar gefertigt worden ist. Eine exakte Datierung bereitet jedoch Schwierigkeiten. Wahrscheinlich haben wir Werke aus dem 15. Jahrhundert vor uns.

Ebenso ungewiss bleibt, ob alle drei Pfundbücher gleichzeitig - d.h. nach 1562 - gebunden wurden. Gewiss ist lediglich, dass man die beieinander liegenden Blätter aus dem Antiphonale ungefähr zeitgleich verarbeitete. Folglich ist davon auszugehen, dass das Buch zu 1533 mindestens sechs Jahre ruhte, bevor es gemeinsam mit dem Werk zu 1539 gebunden wurde.

Mögliche Herkunft der Buchfragmente

Muss die Verwertung der Buchreste somit zwischen 1539 und 1563 erfolgt sein, so drängt sich die Frage nach einem etwaigen Zusammenhang mit dem just in diesen Jahren vollzogenen Übergang der Markgrafschaft zum protestantischen Glauben an. Selbstverständlich wurden besonders viele liturgische Bücher für den römisch-katholischen Gottesdienst in lateinischer Sprache weggeworfen, als man mit der Einführung der Reformation zu Feiern in deutscher Sprache überging. Es ist daher durchaus möglich, dass wir in den Einbandfragmenten Reste der Bücher vor uns haben, die bei der Auflösung des Klosters Gottesaue 1556 konfisziert wurden. Ebenso gut denkbar ist aber auch, dass es sich um Stücke handelt, die einer der neun Priester, die um 1539 an der Durlacher Pfarrkirche ihren Dienst versahen, entsorgte, als er sich aus freien Stücken dem "neuen Glauben" zuwandte. Spekulationen und weiteren Forschungen sind keine Grenzen gesetzt! Obwohl es unbefriedigend sein mag, muss man in diesem Zusammenhang auch in Rechnung stellen, dass die Fragmente vielleicht gar nicht aus Durlacher Kirchen stammen: Papier und Pergament waren bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wertvolle Rohstoffe, die nicht selten über große Distanzen hinweg gehandelt wurden. Aber selbst wenn die Stücke aus Klöstern in Norddeutschland stammen sollten, bleibt es dabei: Mit den Einbandfragmenten haben wir Quellen vor uns, die unmittelbare Einblicke in Lebensbereiche gewähren, die ansonsten unwiederbringlich verloren wären. Über die Musik, die die Menschen hörten und sangen, die Religion, die ihren Lebensalltag prägte, aber auch die "Atmosphäre" in einer mittelalterlichen Kirche sagen die Fragmente mehr aus, als es das Verwaltungsschriftgut, dessen "Überleben" sie als Einband sichern sollten, jemals könnte.

Dr. Gregor Patt, Referent im Sachgebiet Archivberatung, Landschaftsverband Rheinland (LVR)

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