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Blick in die Geschichte Nr. 114

vom 17. März 2017

Zeugnis jüdischer Kultur jetzt im Stadtarchiv

Das Notenbuch des Karlsruher Oberkantors Simon Metzger

von Christoph Kalisch

In der Vorkriegszeit hat der damalige Karlsruher Oberkantor Simon Metzger zahlreiche Texte und Noten aus dem Synagogengottesdienst handschriftlich festgehalten. Ein solches Buch hat Pogromnacht, Flucht, Exil und mehrere Besitzerwechsel überstanden und wird nunmehr im Stadtarchiv Karlsruhe verwahrt.

Nach dem Novemberpogrom 1938 war offenkundig, dass es unter den braunen Machthabern kein jüdisches Leben mehr in Deutschland geben würde. Die jüdischen Männer wurden ins KZ Dachau gesperrt. Niemand wusste, wie lang die Haft dauern würde. Nach einigen Wochen kam wieder frei, wer sich verpflichtete, das Land zu verlassen. Auch Simon Metzger erging es so. Im Februar 1939 ist seine Tochter Ilse mit Familie nach Luxemburg ausgewandert. "Meine Eltern aber glaubten, dass es ihre Pflicht sei, bei der Gemeinde zu bleiben", so schrieb Ilse Schwarz 1988 in einem Brief an Oberbürgermeister Gerhard Seiler. "Aber ungefähr ½ Jahr später wurde ihnen mitgeteilt sofort abzureisen, da man die Juden deportieren würde. Da es ein Samstag war, wollte mein Vater nicht gehen, aber selbst der Rabbiner [Dr. Hugo Schiff] drängte sie zu gehen".

Oberkantor Simon Metzger, wohl USA nach 1941

Simon Metzger hatte von 1914 bis 1939 das Amt des Vorbeters und Religionslehrers der Israelitischen Gemeinde in der Kronenstraße inne. Simon und Marie Metzgers konnten im allerletzten Moment vor Ausbruch des Krieges zu Tochter und Schwiegersohn nach Luxemburg ausreisen. Im Juni 1941 verließ das Ehepaar endgültig Europa, per Schiff von Barcelona nach New York, zu ihrem Sohn Alfred in Queens. Ilse und Ernst Schwarz kamen im August 1941 auf der gleichen Route nach. Die von deutschen Juden gegründete Congregation Emes Wozedek im New Yorker Stadtviertel Washington Heights beschäftigte Simon Metzger noch einige Jahre als Kantor an den Hohen Feiertagen.

Für die in Deutschland Verbliebenen wurde die Lage verzweifelt - im Oktober 1940 mussten über 900 jüdische Karlsruher/-innen den Weg nach Gurs antreten. Neben vielen anderen haben Simon Metzgers Schwager Eugen Bruchsaler, sein Kantorenkollege Siegfried Speyer und sein Amtsnachfolger Jakob Wechsler ihr Leben in den Lagern der Nazis in Osteuropa verloren.

Herkunft und Werdegang Simon Metzgers

Simon Metzger, 1878 als jüngster Sohn des Handelsmanns Abraham Meyer Metzger und seiner Frau Jeanette (Jette) geborene Geismar in Nonnenweier - heute Schwanau - bei Lahr geboren, war zunächst Vorbeter, Religionslehrer und Schächter der Israelitischen Gemeinde in Sulzburg im Markgräflerland. Er schloss die Ehe mit Marie Bruchsaler, Tochter des dortigen Hauptlehrers Joseph Bruchsaler und der Berta geborene Baer. Später wechselte Kantor Metzger nach Bretten; die beiden Kinder Ilse und Alfred kamen dort 1908 bzw. 1911 zur Welt. Im August 1914 übernahm er die Kantorenstelle bei der Gemeinde Kronenstraße in Karlsruhe und wurde auch Religionslehrer an den Schulen der Stadt. Er diente als Soldat im Ersten Weltkrieg und kehrte im November 1918 nach Karlsruhe zurück.

1925, zum 50-jährigen Bestehen der von Josef Durm erbauten Synagoge in der Kronenstraße, wurde Metzger vom Synagogenrat zum Oberkantor ernannt. Als geschulter Tenor gab Simon Metzger auch Konzerte. Beispiele aus seinem Repertoire sind in zeitgenössischen Zeitungsberichten erwähnt, so die traditionelle Sabbathymne "Lecha Dodi" mit der Musik von Louis Lewandowski; eine Arie aus Mendelssohns "Elias" und die "Keduscha", ein gesungenes Gebet aus der Liturgie, komponiert von dem christlichen Dirigenten, Chor- und Musikschulleiter Theodor Munz, der samstags in der Kronenstraße die Orgel spielte - jüdischen Organisten wäre es am Schabbat nicht erlaubt zu arbeiten.

Bis um 1933 wohnte das Ehepaar Metzger in der Kronenstraße 15 neben der Synagoge, die Jahre bis zur Auswanderung im Gemeindehaus Herrenstraße 14.

Das handschriftliche Notenbuch

Nach der "Kristallnacht" im November 1938 bemühte sich das Jüdische Wohlfahrtsamt, für wenigstens ein Kind aus jeder Familie einen Pflegeplatz in England zu organisieren. An Stelle seiner 14-jährigen Schwester gelangte so der bereits 18-jährige Bernhard (Efraim Ber) Färber im Frühjahr oder Sommer 1939 in Sicherheit und ging später in die USA. Vater Josef Färber war wenige Wochen zuvor in sein Geburtsland Polen abgeschoben worden, Sylvia und die Mutter folgten dem Vater im Sommer 1939 nach Krakau. Beide Eltern kamen in Polen um, die Schwester überlebte Auschwitz und zog später auch nach Amerika. Nach seiner Schulzeit auf dem Karlsruher Humboldt-Realgymnasium - wo er vermutlich Simon Metzgers Schüler war - hatte Bernhard noch 1937 in Würzburg das Israelitische Lehrerseminar begonnen. Metzger überließ dem jungen Mann ein in den Dreißiger Jahren eigenhändig geschriebenes Notenbuch der liberalen jüdischen Liturgie des ganzen Jahres, eine Sammlung mit vielfach mehreren Melodien zum selben Text. Im Jahr 2015 kam dieses Manuskript mit dem Einbandtitel "Jüdische Gesänge" aus einem New Yorker Antiquariat wieder an seinen Entstehungsort und wurde nun dem Stadtarchiv geschenkt. Das Buch enthält etwa 250 gesungen vorgetragene Gebete bzw. poetische Einschübe des Synagogen-Gottesdienstes. Heute so in Deutschland kaum noch gebräuchlich, zeigen die Texte zu Kompositionen des späten 19. Jahrhunderts von Sulzer, Japhet, Ehrlich, Naumbourg oder Lewandowski und zu etlichen anonymen Melodien die in Westeuropa wohl ein Jahrtausend lang übliche, aschkenasische Aussprache. Statt modernhebräisch "Schabbat" klingt das wie "Schabbos", "Schalom" wie "Scholom" oder "Scholaum". Die Silben und ihre lautliche Färbung sind in lateinischer Umschrift wiedergegeben, nur die Überschriften in hebräischen Buchstaben. Das heute populäre Jiddisch spielte in Westeuropa übrigens kaum eine Rolle, hat ganz andere Betonungsmuster - und wird in der Liturgie überhaupt nicht benutzt.

Auszug aus dem Notenbuch von Simon Metzger mit der Hymne "Adon Olam" für den Morgengottesdienst von N. H. Katz

Glücklich ergänzt wird diese Sammelhandschrift durch weitere, auch im Internet zugängliche Noten aus dem Nachlass des 1955 in New York verstorbenen Kantors, die das Center for Jewish History des dortigen Leo-Baeck-Instituts als Metzger Music Collection verwahrt (http://bit.ly/2njBoSM). Dort sind Kompositionen von Karlsruhern wie Samuel Rubin, Paul Meyer, Theodor Munz überliefert. In der New Yorker Sammlung gibt es überdies ein nummeriertes, loses Blatt mit einer Gebetsmelodie für Chanukka, das zweifelsfrei aus dem hiesigen Notenbuch stammt - hier fehlen genau diese Seiten.

Wenige Sachzeugen aus 300 Jahren jüdischen Lebens in Karlsruhe haben Krieg und Rassenwahn überstanden. Im Foyer der heutigen Israelitischen Kultusgemeinde in der Knielinger Allee ist ein Fragment einer Torarolle aus der Kronenstraße ausgestellt. An einer Wand finden sich dort Teile der Orgel, auf der Kantor Metzger jahrzehntelang begleitet wurde. So kommt dem Notenbuch, das online auf der Seite des Stadtarchivs (http://www.stadtarchiv-karlsruhe, findbuch.net, Suchbegriffe : Notenbuch Kalisch) eingesehen werden kann, eine besondere Bedeutung zu. Es gewährt Einblicke in Sprache, Melodik und Quellen des Kultus der liberalen jüdisch-deutschen Vorkriegsgemeinden und in - noch unerforschte - lokale Traditionen der untergegangenen Gemeinde Kronenstraße mit ihrem Vorbeter Simon Metzger, der, wie ein Zeitgenosse schrieb, in New York wie in Karlsruhe für sein jüdisches Wissen und sein schöne Stimme bekannt war.

Christoph Kalisch, Autor von Biographien für das Gedenkbuch Karlsruher Juden, Karlsruhe

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