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Blick in die Geschichte Nr. 124

vom 27. September 2019

Karlsruhe hat gesprochen

Rechtsschöpfung im Bundesgerichtshof: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Zivilrecht

von Detlev Fischer

Am 1. Oktober 1950 wurde der Bundesgerichthof in Karlsruhe als oberstes Gericht für die Zivil- und Strafrechtspflege eröffnet. Von Anfang an waren ihm zwei Aufgabenbereiche zugewiesen: Zum einen die Rechtseinheit für das Zivil- und Strafrecht zu gewährleisten und zum anderen das bestehende Recht unter besonderen Voraussetzungen fortzuentwickeln. Der erste Aufgabenbereich, die Wahrung der Rechtseinheit, betrifft das geltende Recht. Er besagt, dass beispielsweise die im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) niedergelegten Regelungen für die einzelnen Vertragsarten, wie das Kauf- und das Mietrecht, im ganzen Bundesgebiet von den Instanzgerichten, den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten, einheitlich ausgelegt werden. Verstößt ein Instanzgericht im Einzelfall hiergegen, so kann der Bundesgerichtshof angerufen werden und für eine einheitliche Rechtsanwendung sorgen. Das Gleiche gilt, falls eine einzelne Rechtsfrage des geltenden Rechts höchstrichterlich noch nicht geklärt ist. Der zweite Aufgabenbereich, die Fortbildung des Rechts, obliegt hingegen nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung in erster Linie dem Gesetzgeber, mithin Bundestag und Bundesrat. Die Rechtsprechung ist hierzu nur ausnahmsweise befugt, und zwar dann, wenn Gesetze regelungsbedürftige Lücken aufweisen, etwa wenn alte Bestimmungen den Bedürfnissen der gewandelten Lebensverhältnisse nicht mehr gerecht werden.

Der Bundesgerichtshof im Erbgroßherzoglichen Palais 1957; in mehreren Entscheidungen der 1950er-Jahre fand der BGH hier Rechtsschöpfung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

Die ersten Entscheidungen zum Persönlichkeitsrecht

Im Folgenden soll auf eine bereits in den Fünfzigerjahren begründete Rechtsfortbildung näher eingegangen werden, die das bürgerliche Deliktsrecht entscheidend weiterentwickelte. Sie löste anfänglich eine lebhafte und kontroverse Debatte in der Rechtswissenschaft aus und konfrontierte den Bundesgerichtshof mit dem Vorwurf, er entscheide contra legem, mithin gegen das Gesetz. Erstmals mit Urteil vom 25. Mai 1954 erkannte der Bundesgerichtshof ein allgemeines Persönlichkeitsrecht an, das dem Betroffenen Abwehr- und Unterlassungsansprüche gegen rechtswidrige Eingriffe im Privatrechtsverkehr zubilligte. Gegenstand des Prozesses war eine Klage des früheren Reichsbankpräsidenten und späteren NS-Wirtschaftsministers Hjalmar Schacht (1877-1970) gegen die überregionale Wochenzeitung Welt am Sonntag. Der Kläger wandte sich dagegen, dass ein von seinem Rechtsanwalt verfasstes Berichtigungsschreiben zu einem ihn betreffenden Zeitungsartikel unter Fortlassung wesentlicher Teile nur als einfacher Leserbrief abgedruckt worden war. Während noch das Berufungsgericht die Klage als unbegründet angesehen hatte, gelangte der Bundesgerichtshof zum gegenteiligen Ergebnis. Er gab der auf Widerruf gerichteten Klage statt und stützte dies auf die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dessen zivilrechtliche Grundlage in § 823 Abs. 1 BGB (sonstiges Recht) liege. Bemerkenswert ist, dass der Bundesgerichtshof die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts unmittelbar aus den Artikeln 1 (Menschenwürde) und 2 (Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit) des Grundgesetzes herleitete. Damit wurde das Schadensersatzsystem des BGB nicht isoliert betrachtet, sondern die Wertvorstellung und die Wertordnung des Grundgesetzes als maßgebliche Richtschnur herangezogen. Dies war ein grundlegender Paradigmenwechsel, der, wie es später im juristischen Schrifttum lautete, radikaler kaum denkbar war. Das Reichsgericht in Leipzig, in dessen funktionaler Nachfolge der Bundesgerichtshof steht, hatte in jahrzehntelanger Rechtsprechung ein derartiges Abwehrrecht stets abgelehnt.

Zwei Jahre später stellte der Bundesgerichtshof in einer weiteren Entscheidung fest, dass eine unberechtigte Bildwiedergabe zu Werbezwecke zur Zahlung von Schadensersatz verpflichte. Zugrunde lag eine Zahlungsklage des Schauspielers Paul Dahlke (1904-1984), der von einem Pressefotografen auf einem von diesem mitgebrachten NSU-Motorrollers fotografiert worden war. Anschließend hatte der Fotograf die Aufnahme ohne weitere Rücksprache mit Dahlke an die NSU-Motorenwerke veräußert, die das Bild zu Reklamezwecken verwendet hatte (Berühmter Mann auf berühmtem Fahrzeug). Der Bundesgerichtshof sprach dem Schauspieler wegen der Verletzung seines Persönlichkeitsrechts materiellen Schadensersatz unter dem Gesichtspunkt einer entgangenen Lizenzgebühr zu.

Dieser Lösungsweg stand bei der 1958 anstehenden "Herrenreiter-Entscheidung" nicht zur Verfügung. Zwar ging es auch hier um die nicht genehmigte Verwendung einer Fotografie für Reklamezwecke. Der im Dahlke-Fall maßgebliche Gedanke, bei rechtmäßigem Vorgehen hätten die Beklagten, um die Erlaubnis des Betroffenen nachsuchen und diesem eine entsprechende Lizenzgebühr entrichten müssen, konnte nicht weiterhelfen. Der Kläger, ein namhafter Brauereibesitzer, wandte sich gegen die Verwendung eines ihn bei einem Reitturnier zeigenden Bildes, mit dem die Beklagte ein von ihr hergestellten Sexualkräftigungsmittel beworben hatte. Eine Lizenzanalogie schied aus, weil, wie in der Entscheidung formuliert wurde, nicht unterstellt werden könne, dass der Kläger sich für viel Geld doch freiwillig in die unwürdige Lage gebracht hätte, gegen die er sich nun wehre. Der Kläger machte keinen materiellen, sondern einen ideellen Schaden geltend. Ausgleich für einen derartigen Schaden konnte nach den damals maßgeblichen Bestimmungen der §§ 253, 847 BGB (Schmerzensgeld) nur im Falle einer Körperverletzung, einer Freiheitsentziehung oder einer ähnlichen Rechtsverletzung gewährt werden, nicht aber für eine Verletzung des neu begründeten allgemeine Persönlichkeitsrechts. Der Bundesgerichtshof sprach gleichwohl für die Rechtsverletzung eine angemessene Entschädigung in Geld aus und begründete die analoge Anwendung des § 847 BGB auf die zur Entscheidung stehende Fallgestaltung mit der vom Grundgesetz gebotenen Gewährleistung wirksamen Rechtsschutzes. In der Tat führen Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vielfach nur zu immateriellen Beeinträchtigungen, so dass ohne Zuerkennung eines immateriellen Schadensersatzes derartige Handlungen sanktionslos blieben.

Die verfassungsgerichtliche Überprüfung der neuen Judikatur

Mit diesen wegweisenden Entscheidungen des I. Zivilsenats war im Wege der Rechtsfortbildung das allgemeine Persönlichkeitsrecht begründet und durch die Zuerkennung einer angemessenen Entschädigung in Geld bei schwerwiegenden Verletzungstatbeständen auch eine wirksame Sanktionsmöglichkeit geschaffen worden. Diese mutige und richtungsweisende Rechtsprechungslinie wurde von dem für das Deliktsrecht zuständigen VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs übernommen und weiter konkretisiert. Sie wurde schließlich auch Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde. Ausgangspunkt war eine Schadensersatzklage der Prinzessin Soraya (1932-2001), der früheren Ehefrau des Schahs von Persien, mit der sie sich gegen ein frei erfundenes Interview wandte, das in der Regenbogenpresse veröffentlicht worden war und unzutreffende Angaben zu ihrem Privatleben enthielt. Die Prinzessin bekam in allen drei Instanzen auf der Grundlage der neuen Judikatur zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht Recht. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des unterlegenen Zeitungsverlages beanstandete insbesondere die Befugnis der Gerichte angesichts der klaren Rechtslage (§ 253 BGB) immateriellen Schadensersatz zuzusprechen und machte sich dabei die Contra-legem-Argumente aus dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum zu Eigen. Die von der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs erging 1965. Nach einer recht langen Verfahrensdauer von immerhin acht Jahren, was die Schwierigkeit der Entscheidungsfindung beim Bundesverfassungsgericht erahnen lässt, wurde die Beschwerde schließlich mit Beschluss vom 14. Februar 1973 als unbegründet zurückgewiesen und im Leitsatz ausgesprochen: Die Rechtsprechung der Zivilgerichte, wonach bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Ersatz in Geld auch für immaterielle Schäden beansprucht werden kann, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

Damit war die Rechtsprechungslinie auch verfassungsrechtlich "abgesegnet". Sie hat bis heute in ihren wesentlichen Konturen Bestand. Sie ist kein Prominentenprivileg, sondern bietet als unverzichtbarer Bestandteil unserer Privatrechtsordnung jedem in der Öffentlichkeit grundlos bloßgestellten Bürger wirksamen Rechtsschutz. An der Rechtsschöpfung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts waren namhafte Richterpersönlichkeiten beteiligt, stellvertretend seien Gerda Krüger-Nieland (1910-2000), Berichterstatterin der ersten Entscheidungen im I. Zivilsenat sowie Theodor Ritterspach (1904-1999), Berichterstatter im Verfassungsbeschwerdeverfahren genannt, beides Richter der ersten Stunde in der Residenz des Rechts.

Dr. Detlev Fischer, Richter am Bundesgerichtshof a. D., Leiter des Rechtshistorischen Museums, Karlsruhe

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