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Blick in die Geschichte Nr. 126

vom 27. März 2020

Carlsruher Blickpunkte

"Überraschend schöne Resultate" oder "Großer Mißgriff"

von Eric Wychlacz

Zeugnisse aus dem Stadtarchiv Karlsruhe dokumentieren, wie Ende des 19. Jahrhunderts die Karlsruher Volksschulen für einige Jahre zum Experimentierfeld von Schriftreformern wurden. Zu der Zeit diskutierten Schulhygieniker - meist Lehrer und Ärzte - im gesamten deutschen Sprachgebiet in Fachzeitschriften und auf öffentlichen Vorträgen, ob die Anwendung der sogenannten Steilschrift eine gesundheitsfördernde Wirkung auf Schülerinnen und Schüler habe. Im Gegensatz zu den bisher stets schräg verfassten Kurrentschriften, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter aus der gotischen Minuskel herausgebildet hatten, sollten bei der Steilschrift ähnlich wie in Druckwerken die Buchstaben senkrecht aufs Blatt gebracht werden. Die Befürworter unter den Schulhygienikern kamen unter Verweis auf groß angelegte Studien zu dem Ergebnis, dass bestimmten durch eine falsche Haltung beim Schreiben hervorgerufenen "Schulkrankheiten" mit der Steilschrift vorgebeugt werden könne. So werde die Skoliose, eine seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule, durch zu langes Sitzen und eine schlechte Körperhaltung beim Schreiben der Schrägschrift hervorgerufen. Eine weitere mit dem Schreiben in Verbindung gebrachte Krankheit war die Kurzsichtigkeit. Der Züricher Augenarzt, Hygieniker und Politiker Friedrich Erismann führte diese auf die Schiefhaltung beim Schreiben mit vornüber geneigtem Haupt, eine zu große Annäherung der Augen an kleine Objekte, schlechte Beleuchtung und den zu kleinen Druck in Schulbüchern zurück.

Denkschrift von Theodor Gelpke aus dem Jahr 1899 über die Vorzüge der Steilschrift

In Karlsruhe bot schließlich ein Vortrag des Augenarztes Dr. Theodor Gelpke über die Vorzüge der Steilschrift dem Rektorat der städtischen Schulen Anlass, die Einführung der Steilschrift in einer Eingabe über den Ortsschulrat am 24. Oktober 1892 beim Großherzoglichen Oberschulrat zu erbitten. Dieser Bitte wurde Folge geleistet und die Steilschrift in den städtischen Volksschulen eingeführt. Gelpke, seit 31. März 1886 in Karlsruhe praktizierend, wirkte unter anderem fast 20 Jahre am Diakonissenkrankenhaus und hatte bereits in den Jahren 1888-89 im Auftrag des Oberschulrates Schulkinder auf ihre Sehtüchtigkeit hin untersucht. In der 1891 daraus hervorgegangenen Publikation erwähnte er neben einer erblichen Disposition und dem allgemeinen Gesundheitszustand als Grund für Kurzsichtigkeit auch die schlechte Haltung der Kinder beim Schreiben. Weitere Untersuchungsergebnisse, welche die Vorteile der Steilschrift unterstreichen sollten, veröffentlichte Gelpke im Jahr 1899. Darin sprach er von einem "eminent günstigen Einfluss" auf die Schüler.

In den kommenden Jahren wuchs hingegen der Einfluss der Kritiker: In einem Gutachten führte der Karlsruher Studienrat und Zeichenlehrer Wilhelm Schumacher die negativen Effekte der Steilschrift auf. Hierzu zählte er schnelles Ermüden der Fingergelenke, die bedeutend geringere Schreibgeschwindigkeit und eine schlechtere die Haltung der Kinder beim Schreiben. Sein vernichtendes Ergebnis: Die Einführung der Steilschrift sei ein großer Missgriff, den es nun zu beseitigen gelte. Das Volksschulrektorat teilte diese Ansichten und führte in einem Schreiben an die Karlsruher Schulkommission ergänzend einen weiteren Kritikpunkt an. Bei Zu- und Wegzügen von Familien sowie Übertritten von Schülern in die Mittelschulen, an denen weiterhin die schräge Schrift gelehrt wurde, sorge die unterschiedliche Handhabung für Verwirrung.

An die Schulkommission 1906 gerichtete Bitte des Volksschulrektorats, die Steilschrift durch die badische Normalschrift zu ersetzen

Nach 14 Jahren war dem Karlsruher Experiment das Aus beschieden. Mit Wirkung zum 23. April 1906 stimmte der Badische Oberschulrat der Abschaffung der Steilschrift zu. Bislang liegt noch keine vergleichende Untersuchung vor, in welcher Form und wie lange sie in anderen Städten im Einsatz war. In Nürnberg zum Beispiel wurde die Schreibweise nach der Einführung im Jahr 1890 zum Schuljahr 1897/98 wieder eingestellt. Bereits 1911, nur wenige Jahre nach der Abschaffung der Steilschrift in Karlsruhe, begann der 1865 in Lahr im Schwarzwald geborene Ludwig Sütterlin im Auftrag des Preußischen Kultusministeriums mit der Entwicklung und Erprobung einer neuen Ausgangsschrift an verschiedenen Berliner Schulen. In Preußen lernten die Schülerinnen und Schüler erstmals 1924 flächendeckend die nach dem Maler, Grafiker und Lithografen benannte Sütterlinschrift. An badischen Lehranstalten wurde sie ab 1931 gelehrt und im gesamten Deutschen Reich für das Schuljahr 1935/36 verbindlich eingeführt. Die Besonderheit der steil geschriebenen Schrift war die schnellere und leichtere Erlernbarkeit. Hieraus sollte sich im späteren Verlauf eine individuelle Handschrift entwickeln. Die Lehrkräfte gingen jedoch davon aus, dass sich die Schrift beim Schnellschreiben wieder leicht nach rechts neigen konnte. Schlussendlich ein Kompromiss.

Eric Wychlacz M. A., Stadtarchiv Karlsruhe

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