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Blick in die Geschichte Nr. 126

vom 27. März 2020

Von der Monarchie zur Republik

Die Renn-Tage von Klein-Rüppurr

von Jan Knopf

Ich fahre mit Frau B. im Jahr 1909 aus ihrer Heimatstadt Achern in die größere Stadt K., die etwa zwei Eisenbahnstunden entfernt liegt. Wir steigen aus an der Station Rüppurr, gehen den Scheibenhardter Weg entlang zum Mühlwiesenweg und gelangen über den Reiherbach sowie an der Mühle vorbei über die Alb zu den Seewiesen. Am sogenannten Spitzen, der früheren Einmündung der Rüppurrer- in die Ettlingerlandstraße, steht ein Kassenhäuschen aus Holz, an dem wir unser Eintrittsgeld entrichten. Wir sind am Ziel, an der Pferderennbahn von Klein-Rüppurr.

Ausschnitt aus einem Stadtplan von 1914 mit der gut erkennbaren ovalen Form der Pferderennbahn Klein-Rüppurr

Es war der Wunsch der "unwürdigen Greisin", wie sie genannt wurde, weil sie sich nach dem Tod ihres Mannes, nun über 70 Jahre alt, "einige Freiheiten herausnahm", die nach Ansicht ihrer Kinder sich nicht für eine alte Dame ziemten (so in der gleichnamigen Kalendergeschichte von Bertolt Brecht). Einmal in ihrem Leben wollte sie den Flair der Großstadt spüren.

Ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Es hatte sich, wie die Karlsruher Presse am nächsten Tag berichtete, "so ziemlich alles eingefunden, was zur guten Gesellschaft gehört - und gehören möchte". Die Offizierskorps der Garnisonen im Umkreis seien sehr zahlreich beteiligt gewesen. Dazu brachten eingesetzte "Rennzüge" der Albtalbahn "eine Menge Residenzler" auf den Platz, "so daß sich alsbald ein lebhaftes Treiben entwickelte". Nicht nur die Tribüne, auch die "mit Taxe belegten Plätze" waren vollständig besetzt; "Zaungäste in besonders großer Anzahl" hatten zudem den Waldsaum, der einen guten Überblick bot, für sich erobert.

Mit einer Extra-Vorstellung hatte die alte Dame nicht gerechnet. Denn in feierlichem Defilee schritten "Seine Großherzogliche Hoheit, der Prinz Maximilian von Baden", zusammen mit seiner Gemahlin sowie der Oberschloßhauptmann Freiherr von Seldeneck, der Oberstleutnant Freiherr Thumb von Neuburg und Oberleutnant Livonius am versammelten Volk vorbei. Nach dem Ausstieg aus den prächtigen Kutschen überreichten die Herren, so hielt der Chronist später fest, "Ihrer Königlichen Hoheit, der Prinzessin Max von Baden, ein prächtiges Rosenbukett und geleiteten die hohen Gäste zur Tribüne, deren Mittelloge hierfür reserviert und mit Fahnentuch in den Landesfarben prächtig ausgeschlagen war".

Der Karlsruher Reiterverein

Die Pferderennen, die als Konkurrenz zu Iffezheim gedacht waren, den Fremdenverkehr ankurbeln sollten und sich offenbar bis nach Achern herumgesprochen hatten, veranstaltete der "Karlsruher Reiterverein" auf den sogenannten Rennwiesen. Der Flurname hat sich bis heute in einem Grillplatz erhalten. Dort gab es eine Tribüne (aus Holz), einen Totalisator, Pferdekoppeln, Nebenplätze, Toilettenanlagen sowie Parkplätze für Kutschen und Automobile. Die Albtalbahn unterhielt die Haltestelle "Klein-Rüppurr" und setzte für die zweimal im Jahr stattfindenden Preis-Rennen Sonderzüge ein, während die Polizei das Gelände großräumig absperrte.

Diesen Reiterverein gibt es nicht, jedenfalls nicht "wirklich". Die Publikation des Stadtarchivs von 2006, die sich dem Karlsruher Sport widmete, kennt zwar den "Rennplatz bei Klein Rüppurr", auch einen Reiterverein mit militärischer Tradition, der seinen Sitz in der Belfortstraße hatte und 1910 sowie 1913 "zweimal jährlich so genannte Renntage" abhielt, teilt ansonsten aber keine weiteren Details mit. Da mein Weg zu Fuß mit der unwürdigen Greisin nur literarisch stattfinden konnte, musste ich, um die Realien zu ermitteln, historische Stadtansichten suchen. Tatsächlich fand ich auf einer Abbildung den Verlauf einer "Rennbahn" verzeichnet, die südlich vom "Spitzen" begrenzt wird und durch die hindurch der Mittelbruchgraben verläuft, also das Gebiet, das heute vom EWG-Hochaus sowie von den Sportplätzen der Alemannia und des Südstern belegt wird. Die Grenze im Osten bildete der Erlenweg mit seinen Bäumen für die Zaungäste.

Zur Ermittlung genauerer Daten fragte ich beim heutigen "Reiterverein Karlsruhe e.V." nach. Dessen Geschäftsstelle teilte mit, dass die Gründung des Vereins erst im Jahr 1948 in der Gaststätte "Wacht am Rhein" stattgefunden hat. Er stehe als solcher in keiner Nachfolge eines vorhergehenden "Renn- oder Reitervereins" (beide Namen sind nebeneinander überliefert) und kenne auch keine personale Kontinuitäten mit älteren Vereinen. Ein vorläufiges Fazit müsste nach den spärlichen Auskünften lauten: Also gab es gar keinen "Karlsruher Reiterverein", er ist reine Fiktion wie die Geschichte von der unwürdigen Greisin.

Im digitalen Zeitalter jedoch ist ein direkter Griff in die Geschichte möglich geworden: in die lokalen Zeitungen. Dort fand ich viel mehr, als ich je zu ahnen gewagt hätte. Ich referiere im Folgenden die Badische Presse, das Karlsruher Tagblatt und die Karlsruher Zeitung, später auch den "Führer", sowie die offiziellen Stadtchroniken der entsprechenden Jahre. Der Verein existierte seit der Jahrhundertwende - die Chroniken sprechen von 1900 - , gab als Geschäftssitz ein Büro in der Belfortstraße 7 (Innenstadt) an und ordnete sich zivilrechtlich der "28. Kavallerie-Brigade Karlsruhe" zu. Die Rennen, die mit Anzeigen in den Zeitungen angekündigt, aber im Berichtteil lediglich unter den Sportnachrichten mehr oder minder pflichtgemäß abgehakt wurden, sind vor dem Ersten Weltkrieg spätestens ab 1903 bis zum Frühjahrsrennen 1914 gut nachgewiesen und wurden von 1921 bis 1929 wieder aufgenommen.

Die Renntage vor dem Ersten Weltkrieg

Am Interessantesten sind die ab 1910. Sie fanden an den Sonntagen des 4. April und 23. Oktober statt (jeweils mindestens sechs Rennen). Die Hauptrepräsentanten waren von adliger Seite der Freiherr von Seldeneck und von ökonomischer Seite der Kommerzienrat Sinner. Beide hingen zusammen, da beide gut gehende Brauereien betrieben, im Krieg auf Heeresversorgung umstiegen, und nach dem Krieg als Kapitalbesitzer und Arbeitgeber, nun wieder im Brauereigeschäft, ihre Gewinne maximierten. 1920 "überschrieb" Seldeneck seine Brauerei auf Sinner, die später in Moninger "aufging".

Dem Rennen am 24. April 1910, so die Karlsruher Chronik, "wohnten der Großherzog, die Großherzogin, Prinzessin Hildegard von Bayern, Prinz und Prinzessin Max, Prinzessin Olga von Braunschweig-Lüneburg, Minister Freiherr von Bodman, der Kommandierende General, Vertreter der Stadt und anderer Behörden sowie Offiziere aller Waffengattungen" bei, das heißt, die gesamte Obrigkeit der Stadt. Dass sich die Stadtgemeinde auch ansonsten um den Verein kümmerte, belegen die jährlichen "Zuschüsse für gemeinnützige Zwecke". 1910 waren es 500 Mark. Im Vergleich dazu erhielt die "Zentralstelle für Volkswohlfahrt" 50 Mark. 1911 erhöhte die Stadt auf 1000 Mark; im Vergleich dazu erhielt der "Verein gegen Mißbrauch geistiger Getränke" 40 Mark.

1911 beehrte das Großherzogpaar beim Frühjahrsmeeting am 25. April den Verein mit seiner Anwesenheit und übergab den Siegern des 5. Rennens die Preise. 1912 stifteten die "Ehrenpreise der Großherzog, der Kommandierende General des 14. Armeekorps, der Verein zur Hebung des Fremdenverkehrs in Karlsruhe, der Automobilklub in Karlsruhe, Kommerzienrat Sinner und Oberschloßhauptmann Frhr. von Seldeneck". Anzumerken ist, dass das 14. Armeekorps den Großverband der Preußischen Armee bezeichnete, der die badischen Truppenteile mit Hauptsitz in Karlsruhe umfasste.

Das Jahr 1913 markierte einen Höhepunkt der Rennanlage. Die beiden Jahres-Rennen wurden am 12. April als "Preisreiten und -Springen des Kampagne-Reitervereins des 14. Armeekorps" sowie am 23. und 30. März in der üblichen Form abgehalten (mit sieben Rennen). Dazu kam ein "Garnisons-Rennen" am 11. November. Am 30. März "wohnte das Großherzogspaar mit den hier anwesenden zwei Prinzessinnen von Luxemburg bei". 1914 fanden keine Rennen mehr statt. Stattdessen veranstaltete "der Verein eine Polizeihundevorführung auf dem über 26.000 qm großen, eingefriedeten Dressurplatz bei Klein-Rüppurr. Etwa 1000 Personen hatten sich als Zuschauer eingefunden."

Die Stadt Karlsruhe schmiedete vor dem Krieg noch große Pläne für eine Neugestaltung der Rennwiesen. Am 5. Juli 1914 meldete der Badische Beobachter das "Projekt für die Errichtung eines Fest- und Spielplatzes auf den Wiesen" anläßlich des 200jährigen Stadtjubiläums. Der Platz sollte auf 37 000 qm erweitert, die alte Tribüne erneuert, eine zweite Tribüne samt Umkleideräumen, Toiletten- und Restaurationsräume gebaut sowie ein großer Spielplatz angelegt werden, und zwar alles für eine dauernde Nutzung. Daraus wurde nichts. Der Erste Weltkrieg begann am 28. Juli 1914.

Wiederaufleben der "alten Tradition" in der neuen Demokratie

Ab September 1921 tauchte der "Karlsruher Reiterverein" erneut auf. Die "alte Tradition", so ließ der Präsident General Ullmann mitteilen, habe der "Feldzug" (gemeint ist der Erste Weltkrieg) leider unterbrochen; sie werde mit der Eröffnung der Karlsruher Herbstwochen "zur allseitigen Freude" zu "neuem Leben" erweckt. Die Rennwiesen bei Klein-Rüppurr und ihre noch vorhandene Tribüne könnten wieder genutzt werden. "Das Direktorium des Vereins, dem u.a. die "Herren Stadtrat Menzinger, Franz Fischer, Veterinärrat Bayersdörfer, Konsul Regensburger, Oberstk. Frhr. von Fischard" angehörten, würde die "alte Anziehungskraft" des Vereins wiederherstellen.

Diese Kraft wirkte bis 1929, mit dem womöglich das letzte Jahr der Rennen angezeigt sein dürfte; im Oktober 1929 kam der Börsencrash. Für den 30. Juni kündigte der Verein ein "außerordentlich interessantes und abwechslungsreiches" Programm an. Den "Höhepunkt" bilde "zweifellos wieder" das Karlsruher Jagdrennen, "das Herrenreiter, Offiziere der Reichswehr und ehemalige aktive und inaktive Offiziere der alten Armee in Uniform oder Farben im Sattel sehen wird". Der Verein sei "auf dem besten Wege, den Rennen bei Klein-Rüppurr wieder jene Bedeutung zu verschaffen, deren sie sich vor dem Kriege erfreuten". Das hieß: Der preußisch-badische Militarismus (die Reichswehr war verboten) trat in den kaiserlichen Farben Schwarz-Weiß-Rot offen gegen die Republik auf.

Aufbau einer 200 Meter langen Tribüne für den Gau-Appell 1933 auf der Rennbahn

Es war dann wohl kein Zufall, dass die Nazis im September 1933 ausgerechnet den militärisch bewährten Ort für ihren ersten "Gauappell" im neu ernannten "Grenzland" (zu Frankreich) wählten. Der "Freiwillige Arbeitsdienst" gestaltete den Rennplatz so um, dass von ihm nichts übrigblieb. Erweitert auf 60.000 Quadratmeter prangte eine 200 Meter lange, 40 Meter tiefe und sechs Meter hohe Tribüne ("30.000 laufende Meter badisches Holz"). Dutzende Fahnenmasten umkreisten den ehemaligen Sportplatz. Ein für den Stampfschritt geeigneter, planierter und zaunumwehrter Boden erwartete die hakengekreuzten Kämpfer: 20.000 Mann SA, Tausende SS-Männer und Stahlhelm-Krieger, 15.000 Mann vom Arbeitsdienst sowie 15.000 "Jungens" (der HJ) und 4000 "Mädels", so berichtete die Karlsruher Zeitung am 25. September 1933 auf der Titelseite. 16 Sonderzüge brachten das begeisterte Grenzmark-Gauvolk in die Hauptstadt. Die "ganze Bevölkerung" Karlsruhes, an diesem Tag angewachsen um etwa 100.000 Menschen, feierte die "alte Garde", jene "Kämpfer der Bewegung, die am längsten und treusten zur Fahne (des neuen Kreuzes) standen". So wurde aus Sport Kampf und aus Kampf Krieg - und das schon vor dem Krieg.

Prof. Dr. Jan Knopf, Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB) an der Universität Karlsruhe

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