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Blick in die Geschichte Nr. 128

vom 25. September 2020

Rettet die Kinder

Ein anderer Blick auf das Lager Gurs

von Brigitte und Gerhard Brändle

Am 22. Oktober vor 80 Jahren verschleppen die Nazis 945 jüdische Menschen aus Karlsruhe in das Lager Gurs in Südfrankreich. Unter ihnen sind auch 83 Kinder und Jugendliche. An das Lager, an die Zustände dort, die Mangelernährung, fehlende Hygiene und ärztliche Betreuung, die Verzweiflung, die Toten und die Verschleppung der Menschen in die Vernichtungslager im Osten ab Mitte 1942 wird alljährlich erinnert. Zwei Drittel der erwachsenen Deportierten aus Karlsruhe überleben die Nazi-Zeit nicht. Viele sterben im Lager Gurs oder anderen Lagern in Frankreich, die meisten ermorden die Nazis in Auschwitz. Ihre Namen und Schicksale sind erforscht und im "Gedenkbuch für die Karlsruher Juden" dokumentiert.

Es fehlt jedoch die andere Geschichte, die Geschichte von Hilfe und Widerstand, die Rettung der Mehrzahl der nach Gurs verschleppten Kinder und Jugendlichen. Zwei Drittel von ihnen überleben die Deportation, doch ihre Lebenswege sind kaum erforscht. Wer hat die Kinder aus dem Lager herausgeholt? Wer hat sie mit richtigen falschen Papieren ausgestattet und sie in Frankreich vor dem mörderischen Zugriff der Vichy-Polizei und der Nazis versteckt? Wer hat sie an die Grenze zur Schweiz geschleust und darüber hinweg beziehungsweise unter dem Stacheldraht durch in Sicherheit gebracht?

Hannelore Trautmann, die Schwestern Hanna und Susanne Moses, die Brüder Arnold und Paul Niedermann, die Geschwister Lore und Werner Richheimer, die Schwestern Edith und Margot Strauss sowie Manfred Goldberger und Hanne Hirsch sind elf der 56 geretteten Kinder aus Karlsruhe. Ihre Lebenswege sind bisher nur zum Teil veröffentlicht, über ihre Retterinnen ist fast nichts bekannt.

Hannelore Trautmann

Sie ist am 3.4.1923 geboren. Die Nazis verschleppen sie mit ihrem Bruder Oskar und den Eltern Emilie und Arthur in das Lager Gurs. Die Familie kommt im März 1941 in das Lager Rivesaltes. Im Juni 1942 retten Mitarbeiterinnen des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE die Geschwister aus dem Lager und bringen sie in Kinderheime. Hannelore kommt in ein Heim der jüdischen Pfadfinder in Moissac. Dies geschieht noch vor Beginn der Razzien der Vichy-Polizei im Sommer 1942, bei denen die Eltern aus dem Lager nach Drancy in das Sammellager für die Transporte "in den Osten" gezwungen werden. Die Nazis deportieren die Eltern mithilfe der Vichy-Polizei von dort am 26. August 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz. Die Mutter wird dort ermordet, der Vater wird von Auschwitz auf einen "Todesmarsch" ins Konzentrationslager Dachau gezwungen und dort am 29. April 1945 befreit.

Ein Fluchtversuch von Hannelore in die Schweiz scheitert. Sie lebt 1943 in dem Heim der ökumenischen Hilfsorganisation "Amitié Chrétienne" im "Château Bégué" in Cazaubon im Departement Gers. Nach einer Razzia wird sie von Yvette und Fernand Sentou versteckt. Als Bürgermeister hat Fernand Sentou die Möglichkeit, Hannelore mit richtigen falschen Papieren auszustatten. In Lyon ist Hannelore zuerst in einem Asyl der Heilsarmee und dann dank der Hilfe einer protestantischen Organisation unter der Leitung von Sophie Coursange bis zur Befreiung versteckt. 1945 findet der Vater seine Tochter in Lyon. Wie der Bruder Oskar in Frankreich gerettet wird, ist nicht bekannt. Nach der Befreiung heiratet Hannelore den schon 1936 aus Karlsruhe nach Frankreich geflohenen Kurt Hagenauer, später Claude Haguenauer.

1991 werden Yvette und Fernand Sentou von Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt. Hannelore sorgt mit dafür, dass die Verantwortliche für ihre Rettung in Lyon, Sophie Coursange, 1997 von Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt wird.

Hannelore Trautmann 1945 nach der Befreiung, rechts ihr gefälschter Ausweis

Hanna und Susanne Moses

Die Geschwister Moses sind 1927 bzw. 1929 in Karlsruhe geboren. Die Nazis verschleppen sie mit ihren Eltern Betty und Nathan in das Lager Gurs. Alice Resch, eine Mitarbeiterin der Quäker, rettet die Schwestern im Februar 1941 aus dem Lager in das Waisenhaus in Aspet und im Juli 1942 in das Heim "Le Couret" des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE. Im Sommer 1942 beginnen Razzien der Vichy-Polizei nach jüdischen Kindern. Anfang 1943 sucht die Vichy-Polizei nach einem Mädchen namens Vera Ralsch. Die Heimleiterin Anna Krakowski versichert, ein solches Mädchen sei nie hier gewesen. Dies stimmt, denn die Gesuchte heißt tatsächlich Vera Malsch. Nach diesem Vorfall wird ein Alarm-System entwickelt, das vor allem die bald 16-Jährigen schützen soll, zu denen auch Hanna gehört. Sobald sich Unbekannte dem Eingang des Geländes nähern, verschwinden die Mädchen durch den Hinterausgang in die umliegenden Wälder. Hanna berichtet: Wir "hielten uns dort versteckt, bis über dem Dach ein Fähnchen erschien, das anzeigte, dass die Luft wieder rein war."

Angesichts weiterer Razzien organisieren die Verantwortlichen Verstecke für die Kinder oder ihre Flucht in die Schweiz. Im Frühjahr erhalten die Schwestern richtige falsche Papiere auf die Namen "Annemarie" und "Suzanne Mourer" aus Haguenau/Alsace. Anfang April 1943 werden sie mit dem Zug nach Limoges geschickt, dort stellt Georges Loinger, ein Mitarbeiter des OSE, eine Gruppe von ca. 50 Kindern und Jugendlichen zusammen und bringt sie nach Grenoble. Dort besorgt Liliane Klein-Lieber von den jüdischen Pfadfindern EIF mithilfe der Nonnen des Ordens "Notre de Sion" für die Schwestern eine sichere Unterkunft in einem Landhaus, beschäftigt als Zimmermädchen und Köchin. Ende Juli bringt eine wie "eine katholische Pfadfinderin aussehende Betreuerin", Rolande Birgy von der katholischen Arbeiter-Jugend, eine Gruppe von 25 Kindern - unter ihnen auch Paul Niedermann - mit dem Zug über Annecy und Annemasse nach Machilly und von dort aus mit einem Lieferwagen nach Douvaine. Bei dem Geistlichen Jean Rosay kann die Gruppe im Pfarrgarten den Einbruch der Dunkelheit abwarten. Zwei Passeure führen am 29. Juli 1943 nach 22 Uhr die Gruppe in einer Stunde Fußweg an die Grenze zu einem hohen Stacheldrahtzaun. Die Passeure schieben die Kinder unter dem aufgeschnittenen Stacheldraht durch und erklären, sie sollen sich den Abhang hinunterkullern lassen und unten den Bach überqueren, dann seien sie in der Schweiz. Tatsächlich erreicht die Gruppe den Ort Hermance in der Schweiz, meldet sich bei der Ortspolizei und wird dann in ein Auffanglager in Genf gebracht.

Susanne und Hanna Moses aus Karlsruhe und ihre RetterInnen Alice Resch, Anna Krakowski, Georges Loinger, Rolande Birgy und Jean Rosay

Arnold und Paul Niedermann

Die Brüder sind 1930 bzw. 1927 in Karlsruhe geboren. Die Nazis verschleppen sie mit den Eltern Friederike und Albert in das Lager Gurs. Die Familie wird im März 1941 in das Lager Rivesaltes verlegt. Im März 1942 retten Mitarbeiterinnen des jüdischen Kinderhilfswerks OSE die Brüder aus dem Lager und bringen sie in das OSE-Heim in Palavas-les-Flots, das von Jenny Masour-Ratner geleitet wird. Arnold kommt mit einem von den Quäkern organisierten Kindertransport auf dem Schiff "Serpa Pinto" von Portugal aus in die USA. Nach Beginn der Razzien der Vichy-Polizei nach jüdischen Kindern im Sommer 1942 bringen Mitarbeiterinnen des OSE Paul in das Heim der ökumenischen Hilfsorganisation "Amitié Chrétienne" in Vic-sur-Cère. Anfang 1943 erhält er richtige falsche Papiere und wird über zwei weitere Stationen in das OSE-Heim in Izieu gebracht. Kurz vor der Razzia der Gestapo unter Führung ihres Chefs Klaus Barbie bringen ihn die Verantwortlichen des OSE auf den Weg in die Schweiz. Liliane Klein-Lieber von den jüdischen Pfadfindern in Grenoble besorgt für ihn und die anderen Kinder ein Versteck in einer Schule. Dort begegnet er seiner Klassenkameradin aus Karlsruhe, Hanna Moses, und deren Schwester Susanne. Sein weiterer Rettungsweg ist bei Hanna und Susanne Moses beschrieben.

Paul und Arnold Niedermann mit ihren Eltern, rechts die Retterinnen der Jungen: Jenny Masour-Ratner und Liliane Klein-Lieber

Lore und Werner Richheimer

Die Geschwister sind 1929 bzw. 1937 in Karlsruhe geboren. Die Nazis verschleppen sie mit den Eltern Helene und Siegfried in das Lager Gurs. Zu Beginn des Jahres 1941 kommt die Familie in das Lager Rivesaltes. Bei Beginn der Razzien der Vichy-Polizei nach Juden im Sommer 1942 retten Mitarbeiterinnen der Quäker die Geschwister am 13. August 1942 aus dem Lager und bringen sie in eines ihrer Heime in Vernet-les-Bains, das von Mary Elmes geleitet wird. Ab Dezember sind die Geschwister dann in einem Heim in Nurieux, wo Rachel Revoy für die bedrohten Kinder sorgt. Am 15. Mai 1943 holt eine Frau, deren Name nicht bekannt ist, die Geschwister ab und begleitet sie auf dem Weg zur Grenze. Es ist nicht bekannt, welche der Rettungsorganisationen wie das CIMADE (protestantische Frauenorganisation), das OSE (jüdisches Kinderhilfswerk) oder die EIF (jüdische Pfadfinder) sie am 17. Mai 1943 an und über die Grenze in die Schweiz bringen.

Werner und Lore Richheimer 1945, rechts ihre Retterinnen Mary Elmes und Rachel Revoy

Edith und Margot Strauss

Die beiden Schwestern sind 1932 bzw. 1929 geboren. Die Nazis verschleppen sie mit den Eltern Meta und Max in das Lager Gurs. Die Familie kommt im März 1941 in das Lager Rivesaltes. Im Dezember 1941 retten Mitarbeiterinnen des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE die Schwestern aus dem Lager und bringen sie in das Heim "Le Couret". Im August erhalten sie von der Heimleiterin Anna Krakowski die Möglichkeit zu einem Aufenthalt bei der befreundeten Familie Moos in Annecy. Aufgrund von Gerüchten, die Kinder aus den OSE- und anderen Heimen seien mit unbekanntem Ziel "in den Osten" deportiert worden, beschließt die Familie Moos, die Kinder nicht in das Heim "Le Couret" zurückzuschicken. Da auch die Familie Moos in Annecy von der Deportation bedroht ist, sind die Schwestern wie Familienmitglieder in verschiedenen Stationen bis zur Befreiung am 19. August 1944 versteckt.

Edith und Margot Strauss 1945, Familie Moos in Annecy

Manfred Goldberger und Hanne Hirsch

Diese beiden gehören zu den aus Karlsruhe in das Lager Gurs verschleppten Kindern. Beide werden im September 1941 von Mitarbeiterinnen des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE aus dem Lager geholt und in das Heim "La Guespy" des Schweizerischen Roten Kreuzes in Le Chambon gebracht. Als die Razzien der Vichy-Polizei nach jüdischen Kindern im Sommer 1942 beginnen, organisiert Juliette Usach, die Leiterin des Heimes, ein Warnsystem und schickt die bedrohten Kinder in den Wald. Die Kinder wissen: Wenn die französische Flagge gehisst ist, müssen sie im Wald bleiben, wenn die schweizerische Flagge weht, ist die Gefahr vorbei. Hanne Hirsch berichtet: "Ich musste mich auf zwei verschiedenen Bauernhöfen verstecken. Die Bauern halfen uns gerne. Einer sagte: 'Obwohl wir wenig haben, wollen wir anderen helfen.'" Über die Rettungslinien des jüdischen Kinderhilfswerkes, der protestantischen Frauenorganisation CIMADE und der jüdischen Pfadfinder kommt Hanne am 15. April 1943 an und über die Grenze zur Schweiz in Sicherheit. Manfred Goldberger lebt bis zur Befreiung im August 1944 versteckt bei Bauern.

Hanne Hirsch (2. von rechts) und Manfred Goldberger (3. von rechts), links Juliette Usach

Die ermordete Retterin: Marianne Cohn

Sie ist in Mannheim geboren und flieht 1934 mit ihrer Familie nach Frankreich. 1939 schließt sie sich den jüdischen Pfadfindern an, die ab 1941/42 jüdische Kinder und Jugendliche illegal in Kinderheimen beziehungsweise bei sicheren Familien unterbringen oder ihre Flucht in die Schweiz organisieren. Kleine Gruppen von Kindern werden in nächtlichen Reisen etappenweise über die Grenze gebracht. Marianne Cohn ist Glied dieser Rettungsketten des jüdischen Kinderhilfswerkes OSE, der protestantischen Frauenorganisation CIMADE und der jüdischen Pfadfinder. Sie begleitet mindestens zehn Kindergruppen an die Grenze. So werden am 26. April 1944 Berta und Leo Dreyfuß, am 28. April 1944 Herbert Marx und am 25. Mai 1944 auch Regina Ettlinger - alle aus Karlsruhe - an und durch Passeure über die Grenze in die Schweiz gerettet. Am 31. Mai 1944 kontrollieren deutsche Grenzwächter Marianne Cohn kurz vor der schweizerischen Grenze. Sie behauptet, die 32 Kinder würden in der nahe gelegenen Ferienkolonie erwartet. Als sich herausstellt, dass dies nicht zutrifft, und sie als Juden erkannt werden, wird die ganze Gruppe eingesperrt. Marianne Cohn schlägt die Möglichkeit zur Flucht aus, um bei den Kindern bleiben zu können. Es gelingt ihr, die Kinder frei zu bekommen. Mitglieder eines SS-Polizei-Regiments ermorden Marianne Cohn am 8. Juli 1944 in der Nähe von Annemasse.

Marianne Cohn

Die geretteten Kinder

Von den 83 in das Lager Gurs verschleppten Kindern aus Karlsruhe werden 14 wie Arnold Niedermann in die USA gerettet, 21 überleben wie die Schwestern Edith und Margot Strauss in Familien in Frankreich, 21 werden wie die Schwestern Hanna und Susanne Moses, die Geschwister Lore und Werner Richheimer und Paul Niedermann in die Schweiz gerettet. Sie gehören zu einem bisher nicht wahrgenommenen Rettungswerk: 408 der 560 in das Lager Gurs verschleppten Kinder aus Baden, der Pfalz und dem Saarland überleben den Nazi-Terror.

Der Vernichtungswille der Nazis macht die meisten Kinder zu Waisen, die Nazis deportieren ihre Eltern in die Mordfabrik Auschwitz oder andere Lager "im Osten". Die Geretteten sorgen dafür, dass ihre RetterInnen nicht vergessen werden: Alice Resch, Rolande Birgy und Jean Rosay, den die Nazis 1944 verhafteten und der im April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen "starb", werden von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt, ebenso Sophie Coursange, Mary Elmes, Yvette und Fernand Sentou sowie Juliette Usach.

Die partei- und religionsübergreifende Einheitsfront zur Rettung der Kinder ist die andere Geschichte des Lagers Gurs. Sie ermöglicht in der Erinnerungs- und Bildungsarbeit den Bezug zu heutigen Zuständen und Aufgaben zur Rettung bedrohter Kinder in beziehungsweise aus Lagern.

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