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Blick in die Geschichte Nr. 133

vom 17. Dezember 2021

"Nicht aus Gründen der Rasse verfolgt"?

Zur Entschädigung von Sinti und Roma in Karlsruhe

von Vanessa Hilss

"Da die Zigeuner sich in weitem Maße einer Seßhaftmachung widersetzt haben, gelten sie als asozial. Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist."

Diesem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1956 war die Klage auf Entschädigung einer im Jahr 1940 deportierten Frau aus der Minderheit der Sinti vorausgegangen. Der Bundesgerichtshof entschied hier nun grundsätzlich, dass sämtliche Verfolgungsmaßnahmen gegen Sinti und Roma, zeitgenössisch "Zigeuner" genannt, die vor den Deportationen nach Auschwitz im Jahr 1943 stattgefunden hatten, als nicht rassistisch motiviert zurückzuweisen seien. Somit wurden diejenigen, die schon in den frühen 1940er Jahren oder früher verfolgt und deportiert worden waren, aus dem Entschädigungsrecht ausgeschlossen.

Nationalsozialistische Verfolgung

Dabei waren Sinti und Roma während der NS-Zeit zweifelsohne rassistisch diskriminiert und verfolgt worden. Mitte der 1930er Jahre waren "Zigeunerlager" eingerichtet worden, in die sie zwangsweise eingewiesen wurden - ungeachtet dessen, ob sie einen festen Wohnsitz hatten oder nicht. Ferner gab es seit 1936 die "Rassenhygienische und erbbiologische Forschungsstelle" unter dem Tübinger Arzt Robert Ritter, der Sinti und Roma systematisch registrierte und damit die Datenbasis für die späteren Deportationen schuf. Im Mai 1940 wurden auf Anordnung des Reichsführers SS Heinrich Himmler Deportationen ganzer Familien organisiert. Hiervon waren auch Karlsruher Sinti betroffen, beispielsweise Henriette Weiss und ihre Familie, die am 17. Mai 1940 zu den insgesamt 490 südwestdeutschen Sinti und Roma über den Hohenasperg nach Polen Deportierte gehörten. Am 16. Dezember 1942 folgte schließlich Himmlers sogenannter "Auschwitz-Erlass", der zur Deportation von etwa 23.000 Sinti und Roma nach Auschwitz führte - für über 85 Prozent der Deportierten war diese das Todesurteil.

Asperg, Deportation von Sinti und Roma

"Wiedergutmachung"? Das BGH-Urteil von 1956

Im Jahr 1949 wurde für die amerikanische Besatzungszone das US-Entschädigungsgesetz verabschiedet. § 1 legte fest:

"Ein Recht auf Wiedergutmachung nach diesem Gesetz hat, wer unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945) wegen seiner politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung verfolgt wurde und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat."

Die Bestimmungen boten einen großen Interpretationsspielraum - denn keine Opfergruppe wurde explizit genannt. Im Fall der Sinti und Roma kam nur ihre "rassische" Verfolgung in Frage. Daran wird deutlich, wie wichtig die Anerkennung als "rassisch Verfolgter" war: Wenn die zuständige Behörde, in Karlsruhe das Landesamt für Wiedergutmachung, dies ablehnte und zu dem Schluss kam, dass die Person aufgrund einer "asozialen" Haltung verfolgt worden war, konnte der Antrag rechtlich problemlos abgewiesen werden.

Im Jahr 1953 wurde schließlich das bundeseinheitliche Entschädigungsgesetz verabschiedet, das sich am US-Entschädigungsgesetz orientierte und 1956 noch einmal in einer novellierten Fassung in Kraft trat. Hinsichtlich der Entscheidung, ab welchem Zeitpunkt die Verfolgung der sogenannten "Zigeuner" unter das Entschädigungsrecht fiel, gab es jedoch große Abweichungen in der Rechtsprechung der Landgerichte und Oberlandesgerichte, bei denen im Falle der vom Landesamt abgelehnten Anträge Berufung eingelegt werden konnte. Daher appellierten einige Gerichte an den Bundesgerichtshof, diese Frage zu klären. Dieser fällte daraufhin am 7. Januar 1956 das einleitend zitierte Grundsatz-Urteil, demzufolge erst ab März 1943, dem Geltungsbeginn des Auschwitz-Erlasses, von einer Verfolgung aus "rassischen" Gründen ausgegangen werden konnte. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass die schon vor 1943 Verfolgten kollektiv als sogenannte "Asoziale" oder "Kriminelle" stigmatisiert wurden, denn nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs waren sie ja nicht aus Gründen der NS-Rassenlehre, sondern aus Gründen ihrer angeblich kollektiv "kriminellen" Haltung oder auch aufgrund der von ihren ausgehenden "Spionagegefahr" verfolgt und deportiert worden.

Asperg, Deportation von Sinti und Roma

Henriette Weiss: Deportation aus "militärischen Gründen"

So erging es auch Henriette Weiss, die im Jahr 1940 aus Karlsruhe ins Generalgouvernement deportiert worden und erst 1945 mit ihrer Familie aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt war. Infolge des KZ-Aufenthalts waren sie und ihr Mann ihrer Existenz beraubt; zwei ihrer Kinder waren aufgrund der Arbeit im Konzentrationslager körperlich behindert. Henriette Weiss stellte bereits im Jahr 1949 einen Antrag auf Haftentschädigung, doch dieser wurde erst 1958 und somit nach Verabschiedung des BGH-Urteils entschieden. Unter Berufung auf dieses Urteil entschied das Landesamt für Wiedergutmachung, dass "[m]aßgeblich für die Aussiedlung der Zigeuner und Zigeunermischlinge aus den frontnahen Gebieten […] allein militärische Gründe" gewesen seien. Henriette Weiss sollte für die etwa fünf Jahre, in denen sie von ihrer Heimat ferngehalten worden war und Zwangsarbeit hatte leisten müssen, keinerlei Entschädigung erhalten, da ihre Deportation 1940 nicht "rassisch" begründet gewesen wäre. Da sie keinerlei Vorstrafen hatte, stellt sich die Frage, aus welchen Gründen die Deportation erfolgt sein sollte, wenn nicht aus "rassischen" Motiven.

Der Anwalt von Henriette Weiss legte Berufung vor dem Landgericht Karlsruhe ein, welche zumindest in Teilen erfolgreich war, denn das Landgericht fällte folgendes Urteil:

"Die Kammer ist in ständiger Rechtsprechung zusammen mit der weitaus überwiegenden Mehrzahl der deutschen Gerichte der Auffassung des BGH gefolgt […] und sieht keinen Anlaß, in diesem Fall davon abzuweichen. Hieraus ergibt sich notwendigerweise, daß der Klägerin jedenfalls für die Zeit vor dem 1.3.1943 ein Anspruch wegen Schadens an Freiheit nicht zusteht. Dagegen muß ihr eine Haftentschädigung für die Zeit vom 1.3.1943 bis 15.1.1945 zugebilligt werden. Wie bereits oben ausgeführt, haben aufgrund des sogenannten Auschwitz-Erlasses ab 1.3.1943 die gegen die Zigeuner getroffenen Maßnahmen Verfolgungscharakter im Sinne des Entschädigungsrechtes angenommen." Henriette Weiss erhielt für die 22 Monate in Haft 3.300 DM, also 150 DM pro Monat. Dieses Urteil stellte zwar eine Verbesserung ihrer Lage dar, gleichzeitig verdeutlicht es aber auch, wie paradox das Entschädigungsrecht war: Die Rechtsprechung, der zufolge alle Maßnahmen nach dem 1. März 1943 als "rassisch" begründet, alle vor diesem Stichtag jedoch als nicht "rassisch" motiviert betrachtet wurden, impliziert die Annahme, dass die "rassische" Verfolgung der Sinti und Roma von einem Tag auf den anderen begonnen hätte, was sicher nicht den Tatsachen entsprach.

Revision des BGH-Urteils 1963

Eine Verbesserung der rechtlichen Situation trat erst 1963 ein, als der Bundesgerichtshof sein Urteil revidierte. Aufgrund des zunehmenden Drucks verschiedener Stellen wurde nun entschieden, dass spätestens seit 1938 für die gegen "Zigeuner" ergriffenen Maßnahmen "rassenpolitische Beweggründe mitursächlich" gewesen seien. Das revidierte Urteil hatte auch Einfluss auf die erneute und letzte Novelle des Bundesentschädigungsgesetzes im Jahr 1965. Denn in diesem wurde festgelegt, dass die zuvor abgewiesenen Anträge von Sinti und Roma, deren Verfolgung sich auf den Zeitraum zwischen 1938 und 1943 bezogen hatte, neu entschieden werden konnten.

Tatsächlich hatten das revidierte Urteil und damit verbunden auch das novellierte Bundesentschädigungsgesetz positive Folgen; so erhielt beispielsweise Henriette Weiss nun eine Entschädigung für ihre Verfolgung seit der Deportation 1940 - dies wohlgemerkt aber erst zwanzig Jahre nach Ende des NS-Regimes. Das novellierte Gesetz von 1965 stellte somit sicher eine Verbesserung der rechtlichen Situation der verfolgten Sinti und Roma dar; dennoch ist fraglich, wie viele Betroffene sich tatsächlich auf eine Neuanmeldung ihrer Ansprüche und die damit verbundenen behördlichen Komplikationen einließen, nachdem sie fast zwanzig Jahre lang umsonst um ihre Entschädigung gekämpft und von den Behörden kollektiv als "Kriminelle" stigmatisiert worden waren.

Vanessa Hilss, Historikerin

Von der Autorin ist erschienen: Sinti und Roma. "Nicht aus Gründen der Rasse verfolgt"? Zur Entschädigungspraxis am Landesamt für Wiedergutmachung Karlsruhe, Karlsruhe 2017 (= Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte. Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe Band 17).

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