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vom 27. Juni 2014
von Manfred Fellhauer
Unübersehbar für Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger steht beim Kühlen Krug in Fahrtrichtung Grünwinkel (Westen) ein mittelalterlich anmutender Bergfried aus rotem Sandstein. Er gehört zum einen zu den baulichen Zeugnissen des Historismus, eines Stilbegriffs, der die Architekturauffassung in der Zeit zwischen 1853 und 1900 bestimmte. Zum zweiten ist dieser Bau Zeugnis einer einst blühenden Industrie im Westen der Stadt an der Bannwaldallee. Dass dieses Gebäude einen Wasserspeicher enthält, der einem Wohnhaus aufgesetzt ist, würde zunächst niemand vermuten. Über einen trapezförmigen Grundriss markierte dieser Turm den Beginn weiterer Industrieanlagen. Ab 1895, mit Fertigstellung des Güterbahnhofs, später Westbahnhof genannt, siedelten sich hier Unternehmen der Textil-, Maschinenbau- und holzverarbeitenden Industrie an, von denen heute die meisten nicht mehr existieren. Gleichwohl erinnern zahlreiche Gebäude aus dieser Zeit der Industrialisierungsphase der Stadt Karlsruhe an diese Betriebe. So auch der ehemalige Wasserturm der Firma Vogel und Schnurrmann.
Gegründet wurde das Unternehmen 1833 durch Juda Levy Vogel in Muggensturm als Lumpenhandel. Eine erste Vergrößerung erfuhr das Geschäft beim Eintritt des Schwiegersohns Samuel Schnurmann. Die von Lumpensammlern gelieferten Textilien wurden sortiert, zerkleinert und zu Kunstwolle oder Kunstbaumwolle aufbereitet. Unter Beibehaltung des Betriebs in Muggensturm verlegte das Unternehmen die Produktion 1879 nach Karlsruhe. Erster Standort war beim Mühlburger Tor, ab 1899 entstand eine ausgedehnte Fabrikanlage beim Westbahnhof. Die Kunstwollfabrik gehörte zu den ersten ihrer Art im Deutschen Reich, die eine Wiederverwertung von Textilien in großem Maßstab betrieb und entwickelte sich zum größten Werk in Süddeutschland und zu einem der bedeutendsten in Deutschland. Architekt dieser in den Jahren zwischen 1899 und 1907 entstehenden Anlage war Ludwig Levy (1854 - 1907). Levy stand im Ruf eines überdurchschnittlichen Baumeisters. Schon in jungen Jahren war Levy im bedeutenden Architekturbüro Paul Wallot in Berlin an der Erstellung der erfolgreichen Wettbewerbsentwürfe für den Berliner Reichstag beteiligt. Kunsthistoriker rechnen Levy im Synagogenbau zu den bedeutendsten in Deutschland tätigen Architekten. Für den Bau der Synagoge in Straßburg, errichtet „in romanischem Stil“, hat Kaiser Wilhelm I. den Architekten Ludwig Levy mit dem Roten Adler Orden ausgezeichnet. Aufgrund der im Dritten Reich zerstörten Synagogen sind die Bauten von Levy, abgesehen von wenigen repräsentativen Villen und Geschäftshäusern in der Pfalz nur in dem Karlsruher Textilwerk und dem ehemaligen Laborbau auf dem Augustenberg erhalten geblieben.
In dem damals neu ausgewiesenen Industriegebiet an der Bannwaldallee baute Levy 1899 zuerst ein mächtiges, einheitlich in rotem Sandstein ausgeführtes Produktionsgebäude für Kunstwolle, das in der Fachliteratur als Fabrik "im romanischen Stil" Beachtung fand. Das Bürogebäude, Lagerschuppen, Wäscherei und Färberei waren relativ schmucklos. Zuletzt entstand das Turmgebäude, in dem ein 70m³ fassender Wasserspeicher mit darunterliegender Schieberkammer untergebracht wurde. Der Wasserspeicher hatte vor allem die Aufgabe, den hohen Wasserverbrauch der Wäscherei und der Färberei bei annähernd konstantem Betriebsdruck sicherzustellen und Löschwasser vorrätig zu halten. Die Sohle der Wasserkammer liegt 22 m über Gelände, das Mauerwerk erreicht eine Höhe von 26 m, die Turmspitze von 32 m. Um die Wirtschaftlichkeit der teuren technischen Anlage zu verbessern, baute Levy acht Dreizimmerwohnungen von etwa 90 m² Wohnfläche über vier Geschosse um den Turm herum.
Die Fabrikgebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zum größten Teil zerstört. Der Wasserspeicher dagegen blieb unversehrt erhalten und versorgte die umliegende Gegend mit Löschwasser. Mit den hohen Anforderungen an die Wasserversorgung entsprachen die technischen Voraussetzungen des Wasserturms in den 1970er Jahren nicht mehr den zeitlichen Verhältnissen. Die Versorgung des Betriebs wurde durch eine moderne Kreiselpumpe ersetzt. 1984 brach man die alten Anlagen ab und gestalte die Räumlichkeiten zur Wohnnutzung um. Erhalten ist auch noch das alte Kesselhaus in dem heute das gleichnamige Restaurant betrieben wird. Wirkte der Wasserturm ursprünglich wie ein Bollwerk der Industrieanlagen gegenüber der Stadt, galt er in den 1950er Jahren als Wahrzeichen der Weststadt. Heute ist der ursprüngliche Eindruck des Bauwerks durch bauliche Veränderungen gestört, so z. B. durch die nicht mehr vorhandene Schiefereindeckung des Daches. Aber auch die Neubauten in unmittelbarer Nähe mindern die ursprüngliche architektonische Dominanz dieser "Industrie-Burg", die in der Liste der Kulturdenkmale der Stadt Karlsruhe, Ortsteil Grünwinkel verzeichnet ist.