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vom 15. Dezember 2023
von Jeremias Loghis, Paul Mai und Elias Vollmer
Wer mit offenen Augen durch Karlsruhe geht, der ist sicherlich bereits mit dem Mieter- und Bauverein Karlsruhe eG (MBV) in Berührung gekommen. Diese bedeutende Genossenschaft hat das städtebauliche Erscheinungsbild der Fächerstadt seit über hundert Jahren geprägt. Einer der Gründe hierfür liegt in dem umfangreichen Wohnungsbestand, der sich über eine Vielzahl von Stadtteilen erstreckt. Darüber hinaus kann die Genossenschaft im Jahre ihres 125-jährigen Jubiläums auf eine lange, ereignisreiche und zu großen Teilen beeindruckende Geschichte zurückblicken. Im Jahre 1897 gegründet, um der damals herrschenden Wohnungsnot in Karlsruhe Abhilfe zu schaffen, wurde sie rasch zu einem Beispiel für Solidarität, Demokratie und Gemeinnützigkeit. Dieses Werteverständnis ging jedoch verloren, als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernahmen. Mit rasanter Geschwindigkeit musste sich der Mieter- und Bauverein der NS-Ideologie anpassen und wandte sich mit z. T. anderen Akteuren von den demokratischen Werten ab. Diesem Phänomen der Gleichschaltung war keineswegs nur der MBV ausgesetzt, dennoch lohnt es sich, gerade vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen, den Prozesses genauer zu betrachten.
Zunächst einmal gilt, dass Aufarbeitung nur dann ihren Zweck erfüllt, wenn eine Auseinandersetzung mit ihr leicht zugänglich erfolgen kann. Erste Hinweise gab die Webseite des MBV, wo (Stand Oktober 2022) eine Chronik der Unternehmensgeschichte bereitgestellt wird, in der über die Jahre 1933 bis 1945 über die Fertigstellung von Bauprojekten und die Zerstörung von Gebäuden während des Zweiten Weltkriegs berichtet wurde. Darüber hinaus war für das Jahr 1933 ein Artikel zum Thema der Gleichschaltung verlinkt. Dieser Artikel bestand aus 563 Wörtern, wovon lediglich 109 die Gleichschaltung im Nationalsozialismus thematisierten. Diese Beobachtung führte uns zu der bewusst überspitzten Leitfrage unserer Arbeit: "Können 109 Wörter ausreichen, um die eigene NS-Vergangenheit angemessen aufzuarbeiten?"
Um die Notwendigkeit der Aufarbeitung zu verstehen, muss man sich der Bedeutung der Genossenschaft für Karlsruhe lange vor 1933 bewusst sein: Am 10. April 1843 wurde in Karlsruhe ein Bahnhof an der Kriegsstraße eröffnet. Im neu entstandenen Bahnhofsviertel, heute Südstadt, entstanden recht bald zahlreiche Eisenbahnwerkstätten und in deren Folge an. Die im Zuge der nun langsam einsetzenden Industrialisierung seit 1870 rasch wachsende Bevölkerung führte zu einem Mangel an Wohnraum und zu teilweise prekären Wohnverhältnissen. Angetrieben durch den Willen etwas zu verändern, bewirkten Menschen verschiedenster Gesellschaftsschichten unter der Führung des Linksliberalen Karl Delisle, dass zum 3. Mai 1897 der Mieter- und Bauverein Karlsruhe mit 218 Mitgliedern in das Genossenschaftsregister eingetragen wurde. "Mut zur Selbsthilfe" war das Credo der Zeit und so entwickelte sich aus Impulsen "von unten" eine effektive Antwort auf die Wohnungsnot in Karlsruhe. Durch die Folgen des Ersten Weltkriegs und die daraus resultierende wirtschaftliche Notlage in den ersten Jahren der Weimarer Republik kam es zu einem weiteren Anstieg des Wohnungsbedarfs. Da dieser von privaten Bauunternehmern nicht gedeckt werden konnte, förderte die Regierung den Bau von Wohnungen durch Genossenschaften, wovon auch der MBV profitierte.
Noch 1932 zeigte sich die Genossenschaft von ihren demokratischen Werten fest überzeugt. So wurde ein Antrag auf Veröffentlichung der Wohnungsausschreibungen in der NS-Parteizeitung "Der Führer" vom Vorstand mit der Begründung abgelehnt, dass "diese Partei ein grundsätzlicher Gegner der Genossenschaft sei". Darüber hinaus kam es Mitte desselben Jahres gehäuft zu Beschwerden, dass ein Mieter namens Fritz Waffenschmidt, später NSDAP-Gaufachschaftsleiter im Gauamt für Beamte, entgegen einem ausdrücklichen Verbote Hakenkreuzfahnen in MBV-Gebäuden hisse. Mit der sogenannten "Machtergreifung" der Nationalsozialisten veränderte sich dies jedoch drastisch. Der MBV musste die zuvor demokratischen Strukturen umgestalten und an nationalsozialistische Prinzipien anpassen. Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder wurden ausgetauscht - der erwähnte Fritz Waffenschmidt übernahm im Mai 1933 das Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden -, die Generalversammlung wurde durch eine Vertreterversammlung ersetzt und die ursprünglich sachlichen Geschäftsberichte verkamen zu politischem Propagandawerkzeug. Satzungen wurden dahingehend verändert, dass jüdische Mitbürger keine Mitglieder mehr werden durften, andere Mitglieder wurden aus Wohnungen ausgeschlossen und das Recht auf Privatsphäre in der eigenen Wohnung vielfach verletzt. Die genossenschaftliche Werteordnung wurde der NS-Ideologie entsprechend umgedeutet, angepasst und schlussendlich verraten. Bei diesem Prozess handelt es sich zwar um ein weitverbreitetes Phänomen, die Geschwindigkeit jedoch, mit der sich widerstandslos von sämtlichen demokratischen Werten verabschiedet wurde, ist bemerkenswert. Gerade, wenn man betrachtet, dass die Gleichschaltung auch von langjährigen Mitgliedern und Funktionären umgesetzt wurde.
Ein Vorzeigebauprojekt dieser Zeit der Bau der Rheinstrandsiedlung wurde von zahlreichen namhaften Parteigängern und Architekten begleitet, Die Siedlung, die zunächst nach Adolf Hitler benannt werden sollte, wurde im nationalsozialistischen Stil errichtet und dementsprechend ideologisch aufgeladen und propagandistisch zweckentfremdet. Unterstützt wurde die Errichtung von hochrangigen NS-Größen wie dem badischen Gauleiter Robert Wagner, dem späteren Leiter der nach ihm benannten Organisation Todt Fritz Todt und dem Architekten und NSDAP-Reichstagsabgeordneten Paul Schultze-Naumburg, woran sich die beigemessene Bedeutung und Tragweite des Projekts erkennen lässt.
Nach der deutschen Kapitulation wurden 1945 sämtliche Funktionäre der Genossenschaft ausgetauscht und einem Spruchkammerverfahren unterzogen. Bis auf eine Ausnahme wurden alle als "Mitläufer" mit vergleichsweise geringen Geldstrafen belegt. Spätestens damit ist klar: Eine Aufarbeitung dieser Themen ist auch heute noch von großer Bedeutung. Insbesondere Unternehmen und Institutionen, die in der Vergangenheit eine verantwortliche Rolle gespielt haben, tragen eine gesellschaftliche Verantwortung, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Repräsentativ für die Chance einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dieser Thematik stehen die beiden Eingangstore zum Meidinger-Block, unmittelbar neben dem Badischen Staatstheater. In die Tore waren in der NS-Zeit sowohl Hakenkreuze als auch ideologisch gefärbte Leitsprüche eingearbeitet. Nach 1945 wurden diese Symbole kommentarlos durch Blumenornamente ersetzt, wohingegen die weltanschaulichen Leitsätze bis heute erhalten geblieben sind. Es ist an der Zeit, dass die Hintergründe und Motive der Entfernung der Hakenkreuze und damit einhergehend die NS-Vergangenheit noch umfassender offengelegt und kritisch beleuchtet werden. Die umfangreichen Aktenbestände des Mieter- und Bauvereins bieten hierbei eine einzigartige Gelegenheit, die Vergangenheit zu reflektieren und die Chancen, die sich daraus ergeben, zu nutzen. Obwohl Teile hiervon bereits in Veröffentlichungen des Mieter- und Bauvereins eingeflossen sind, sind die Möglichkeiten, einer breiten Öffentlichkeit einen vertieften Einblick zu ermöglichen, noch nicht vollständig ausgeschöpft. Eine Übergabe der Aktenbestände in ein staatliches Archiv oder auch das Anbringen einer Informationstafel am Meidinger-Block wären bereits ein sinnvoller Anfang und würde interessierten Bürgerinnen und Bürgern, Passanten, aber gerade auch jungen Menschen eine differenzierte und intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Stadtgeschichte ermöglichen und einen wichtigen Beitrag zur Demokratiebildung darstellen. Der Mieter- und Bauverein Karlsruhe der Gegenwart könnte so ein starkes und souveränes Zeichen in bewegten Zeiten setzen und gleichsam einen Bogen zur Haltung seiner beein-druckenden Gründerpersönlichkeiten schlagen.
Zu den Autoren:
Jeremias Loghis, Paul Mai und Elias Vollmer legten 2022 das Abitur am Bismarck-Gymnasium Karlsruhe ab. Mit Unterstützung ihres ehemaligen Geschichtslehrers und Mentors Dr. Tobias Markowitsch reichten sie im Februar 2023 beim renommierten „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“, organisiert von der Körber-Stiftung, einen Beitrag mit dem Thema „Der Mieter- und Bauverein Karlsruhe eG - Reichen 109 Wörter zur Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangenheit?“ ein. Ihre Recherchen im Stadtarchiv Karlsruhe, dem Generallandesarchiv sowie dem genossenschaftseigenen Archiv wurden mit dem Ersten Bundespreis ausgezeichnet. Die jungen Karlsruher wurden daher von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Preisverleihung ins Schloss Bellevue nach Berlin eingeladen. Der hier vorliegende Text bezieht sich nur auf ausgewählte Aspekte des Wettbewerbsbeitrags.