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BNN vom 23. September 2023

Pressebericht über das Stadtarchiv

Suche nach dem Onkel endet am Stolperstein

Familienforschung kann spannend sein – und weh tun

Von Angela Wiedemann

Wo sind meine Wurzeln? Familienforscher wollen es genau wissen.

Ein Stolperstein vor dem Geburtshaus seines toten Vaters. Das war es also, wohin die Suche nach seinen Wurzeln Stefan W. geführt hatte. Eigentlich hatte der Brettener im Internet Informationen über seinen Großvater gesucht – doch gefunden hatte er einen anderen Mann. Einen, der den gleichen Namen trug und in derselben Stadt geboren war. Stefan W. wollte mehr wissen.

Die Spur führte in die ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Stetten, die heute zur Diakonie gehört. In deren historischem Archiv fand Stefan W. dann auch alle notwendigen Informationen, um ein dunkles Kapitel der eigenen Familiengeschichte zu erhellen. Der Gesuchte war der Halbbruder seines Vaters. Die Nazis hatten ihn mit 34 Jahren ermordet, weil er Epileptiker war. Und Stefan W. hatte nie zuvor von ihm gehört.

So spannend kann Familienforschung sein. Und so tragisch. Für Stefan W. ist seine Geschichte derart persönlich, dass er nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden will. Er ist weiter auf der Suche – so wie viele tausend Menschen in Deutschland. In Amerika liegt die Jagd nach Informationen über die Ahnen noch viel stärker im Trend. Woher komme ich? Wie haben meine Vorfahren gelebt? Habe ich noch lebende Verwandte? Vielleicht sogar jenseits des großen Teichs? Um all diese Fragen geht es. Aber vielleicht lautet die wichtigste Frage, die alle anderen einschließt, sogar: Wer bin ich?

Katrin Dort, die Leiterin des Karlsruher Stadtarchivs, hat häufig mit Familienforschern zu tun, privaten und professionellen. Was denkt sie, was die Suchenden antreibt? "Es geht um Identität", vermutet sie. Und familiäre Wurzeln seien nun mal ein Baustein unserer Identität. Als Historikerin kann Dort den Wunsch der Menschen, sich selbst in einem großen Gefüge zu verorten, gut verstehen.

"Es ist Detektivarbeit, und sie macht Freude, wenn man Erfolg hat." – Daniela Testa, Sachbearbeiterin im Stadtarchiv Karlsruhe

90 Familienforscher wandten sich auf ihrer Suche allein im Jahr 2022 an das Karlsruher Stadtarchiv. 15 davon kamen persönlich vorbei und wälzten Akten und Register, für die anderen ging Daniela Testa auf Recherche. Die Sachbearbeiterin liebt ihre Arbeit, man kann das deutlich sehen, wenn sie davon erzählt. Sie lehnt sich dann vor, und ein Strahlen geht über ihr Gesicht. Manchmal, sagt sie, kann sie sich fast nicht bremsen, wenn sie auf einer guten Spur in den Akten ist. Dann liefert sie auch mal mehr als das, was ursprünglich angefragt war. „Es ist eine Detektivarbeit“, sagt die 55-Jährige, "und sie macht dann Freude, wenn man Erfolg hat."

Dafür muss man aber zunächst wissen, wo und wie man richtig sucht. Testa ist eine gute Anlaufstelle, denn sie hat auch schon in eigener Sache recherchiert. Sie weiß also genau, wo welche Information zu finden sein könnte. Aber dann geht die Arbeit erst richtig los, das Blättern in Adressbüchern, Sammelakten, Sterberegistern und Standesbüchern. Jede Menge Recherchematerial schlummert in den sieben Etagen des Stadtarchivs, und oft führt eine Quelle zur nächsten.

Doch nicht jede Akte darf auch von jedem Besucher eingesehen werden. Grund ist der Datenschutz. Schutzfristen gelten immer dann, wenn es um Informationen über lebende Personen geht. Geburtenbücher etwa dürfen aktuell nur bis zum Jahr 1912 eingesehen werden, Heiratsbücher bis 1942 und Sterbebücher bis 1992. Ausnahmen gibt es für direkte Nachkommen, oder wenn ein berechtigtes Interesse nachgewiesen wird – beispielsweise bei einer durch ein Gericht angeordneten Erbensuche.

Wegen der Schutzfristen stoßen Familienforscher wie Stefan W., die auch eventuell noch lebende Verwandte suchen, relativ schnell an ihre Grenzen. "Bereits bei der Suche nach einem Cousin wird es heikel", sagt Daniela Testa. Denn nicht jeder, der gesucht wird, will auch gefunden werden. Manchmal führt das zu Diskussionen mit den Nutzern des Archivs. So sah sich Katrin Dort in der Vergangenheit schon einmal mit einer Forscherin konfrontiert, die Kontakt zu einer fremden Familie suchte, weil sie diese über die Nazi-Vergangenheit ihrer Vorfahren informieren wollte. Doch das gilt nicht als berechtigtes Interesse.

Es gab auch schon den umgekehrten Fall: Dass jemand Katrin Dort kontaktierte, um sich zu informieren, ob er Forschungen bezüglich seiner Familiengeschichte verbieten könne. Auch dabei ging es um die Nazi-Vergangenheit der Vorfahren – aber in diesem Fall waren die Schutzfristen bereits abgelaufen. Dann darf jeder Einblick nehmen, und er darf seine Funde auch publizieren. In einer Familie, die schmutzige Geheimnisse aus der Vergangenheit immer unter den Teppich gekehrt hat, kann das für reichlich Aufregung sorgen. So wie in diesem Fall.

Wer die jüngsten 120 Jahre in seiner Familiengeschichte bereits dokumentiert hat, dem stehen keine Schutzfristen mehr im Weg. Dafür gibt es andere Erschwernisse. Etwa den Umstand, dass im Zweiten Weltkrieg etliche Meldeunterlagen verloren gingen. Oder die Tatsache, dass das Personenstandswesen, also die staatliche Registrierung von Geburten, Heiraten und Todesfällen, erst im Jahr 1876 flächendeckend eingeführt wurde. "Wenn man weiter zurückforschen will, muss man in die Kirchenbücher Einblick nehmen", sagt Katrin Dort.

Das führt die Suchenden dann manchmal zu Heinrich Löber, dem Leiter des Landeskirchlichen Archivs in der Karlsruher Blumenstraße. Er ist so etwas wie der Torwächter zum Gedächtnis der Evangelischen Landeskirche und damit ein häufiges Ziel von Familienforschern. Wer zu ihm kommt, sucht Zugang zu den Kirchenbüchern, in denen bis Ende des 19. Jahrhunderts in protestantischen Gemeinden sämtliche Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle dokumentiert wurden. Katholische Gemeinden führten ähnliche Bücher.

"Kirchenbücher sind eine immense Fundgrube", sagt der Archivar. Es gebe für jede Gemeinde mehrere Bücher. In ihnen enthalten sind meist bis zu 450 Jahre Geschichte aller Familien im Dorf. Im Landeskirchenarchiv findet man alles in digitalisierter Form vor, was die Recherche deutlich erleichtert.

Verantwortlich für das Führen der Kirchenbücher waren die Pfarrer. Je nach persönlicher Vorliebe dokumentierten sie wesentlich mehr als das, was sie eigentlich mussten. Das macht diese Quelle für Familienforscher so interessant: Sie interessieren sich ja nicht nur für Daten – sie wollen auch etwas über das Leben ihrer Vorfahren erfahren. Häufig sind weitere Informationen in Randbemerkungen versteckt: Berufe, Todesursachen, bei unehelichen Geburten manchmal sogar, wer der Vater war.

"Das ist eine krasse Geschichte, auf die ich da gestoßen bin." – Stefan W., Familienforscher aus Bretten

Vor einigen Jahren brachte genau solch eine Randbemerkung dem nach seinen Vorfahren forschenden Ex-Premier von Großbritannien, Boris Johnson, den Durchbruch. Damals war er noch Bürgermeister von London und der britische Sender BBC begleitete ihn auf einer Spurensuche, die ihn bis ins Archiv des Bistums Augsburg führte. Dort fand der Archivar in einem alten Kirchenbuch eine Notiz zur Eheschließung seiner Ururur-Großmutter: Es hieß dort, dass der natürliche Vater der Braut Prinz Paul von Württemberg war, der zweitgeborene Sohn von Friedrich I., König von Württemberg. So konnte Boris Johnson nicht nur seine uneheliche Abstammung vom Württembergischen Königshaus belegen – sondern darüber hinaus auch seine Verwandtschaft zum englischen Königshaus. Ein echter Popularitäts-Booster im adelsverliebten Inselreich.

So weit zurück ist der Brettener Stefan W. bei seinen eigenen Nachforschungen bisher nicht gekommen. Das liegt aber auch daran, dass es nicht nur einen von den Nazis ermordeten Onkel gibt, sondern auch Rätsel in der jüngeren Familiengeschichte – unter anderem um einen zeitlebens vom Vater entfremdeten Halbbruder von Stefan W., den dieser nur aus Erzählungen kannte.

"Das ist eine krasse Geschichte, auf die ich da gestoßen bin", sagt der Familienforscher am Telefon, und dieses Mal hört man die Emotion in seiner Stimme deutlich.

Als er nach dem Tod seines Vaters dessen Unterlagen sichtete, fiel ihm ein Zeitungsausschnitt in die Hände. Es war eine Annonce zum Tod seines wesentlich älteren Halbbruders. Nun hatte Stefan W. einen Namen und nach einer schnellen Internet-Recherche auch eine Adresse. Stefan W. nahm Kontakt zur Familie seines Halbbruders auf und erfuhr endlich, wie es zum Kontaktabbruch gekommen war.

Demnach habe sein Halbbruder sein Leben lang geglaubt, dass der Vater nichts mit ihm zu tun haben wolle und dass er auch nie Unterhalt bezahlt habe. Seine Mutter hatte ihn wohl in diesem Glauben gelassen und gleichzeitig dem Vater den Kontakt verwehrt. Stefan W. aber konnte schriftlich nachweisen, dass regelmäßig Geld geflossen war. Und er konnte davon berichten, wie traurig er seinen Vater erlebt hatte, wenn die Sprache auf dessen verlorenen Sohn gekommen war.

All diese Erkenntnisse kamen für Vater und Sohn leider zu spät. Auch Stefan W. durfte seinen Halbbruder nie kennenlernen. Aber eines wird den Familienforscher immer freuen: "Ich konnte meinen Vater rehabilitieren. Nach 50 Jahren."

Quelle: Badische Neueste Nachrichten | Karlsruhe | FÄCHER | 23. September 2023

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