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Blick in die Geschichte Nr. 108

vom 25. September 2015

Gurs – Chansaye – Zürich – Israel

Emmy Ettlinger: Ein Leben nach der Deportation

von Peter Ettlinger, Brigitte und Gerhard Brändle

"Es war kalt im Winter und der Wind blies durch die Fugen und die Ritzen, der Regen rieselte durch das Dach, wenn auch aufgespannte, aufgehängte Regenschirme einen kleinen Schutz gaben. Wir zogen alle unsere Kleidungsstücke übereinander an, ehe wir uns in die Decken einwickelten. […] Und wie hatten wir geschlafen? Zuerst nur mit unserer Decke auf dem Fußboden, dann auf Stroh, dem ein Strohsack folgte. So lag ich lange, bis es mir gelang, zwei leere Orangenkisten zu erstehen, eine dritte war nicht zu haben. Sie hatten den Vorteil, dass  die Rattenplage für mich geringer wurde, den Nachteil, dass die Fläche zu kurz war und der Zwischenraum eine große Unbequemlichkeit bildete…", so beschreibt Emmy Ettlinger aus Karlsruhe die Zustände im südfranzösischen Internierungslager Gurs Ende 1940. Sie ist am 22. Oktober 1940 unter den 905 Menschen aus Karlsruhe und Grötzingen bzw. 5593 aus ganz Baden, die der Nazi-Gauleiter Robert Wagner ins Ungewisse verschleppen lässt. Wochen später kommen weitere 40 Deportierte, die im Oktober nicht transportfähig bzw. nicht in Karlsruhe waren, im Lager Gurs an. Nur 345 der 945 aus Karlsruhe Vertriebenen überleben den Nazi-Terror.

Baracken im Internierungslager Gurs am Nordrand der Pyrenäen; die Bettstatt bestand im Winter 1940/41 aus Strohschütte auf blankem Boden; hinten die Baracke des Schweizer Roten Kreuzes; Zeichnung von Emmy Ettlinger

Emmy Ettlinger spürt die Gefahr: Ihr Schwiegersohn Ludwig Hemmerdinger berichtet von der Zerstörung der Synagoge in der Kronenstraße am 9. November 1938. Sie erfährt von der anschließenden Deportation von über 400 jüdischen Männern ins Konzentrationslager Dachau, darunter der Schwiegersohn sowie Paul und Victor Homburger aus ihrem Freundeskreis. Ab dem 12. November darf sie weder ein Konzert noch ein Theater oder Kino besuchen, auch nicht mehr eine öffentliche Bibliothek nutzen. War in Karlsruhe schon ab Juli 1935 der Besuch der öffentlichen Badeanstalten verboten, erklärt jetzt die Karlsruher Stadtverwaltung auch den Stadtgarten zur "no-go-area" für Juden. Im Januar 1939 wird Emmy Ettlinger wegen eines angeblichen Devisenvergehens eines befreundeten Ehepaars im Gefängnis in der Riefstahlstraße festgehalten und dann in der Anstalt Illenau eingesperrt. Im September erfolgt die Beschlagnahme "von im Besitz von Juden befindlichen Rundfunkgeräten". Ende 1939 wird Emmy Ettlinger gezwungen, aus ihrer Wohnung in der Schlieffenstr. 10 - heute wieder Seminarstraße - in das "Judenhaus" am Haydnplatz 6 umzuziehen. Mit Beginn des Jahres 1940 werden ihre Lebensmittelkarten mit einem "J" versehen und sie darf nur noch in eigens für Juden vorgesehenen Geschäften einkaufen.

Am Morgen des 22. Oktober 1940 klingeln Gestapo-Männer an allen Wohnungen des "Judenhauses" am Haydnplatz 6 und fordern die insgesamt 16 Personen auf, in zwei Stunden abmarschbereit zu sein. Entsprechend einem Merkblatt teilen sie mit, was die Betroffenen mitnehmen dürfen: maximal 50 kg Gepäck, eine Wolldecke, Verpflegung für mehrere Tage, Ess- und Trinkgeschirr und höchstens 100 Reichsmark Bargeld; nicht mitgenommen werden dürfen Sparbücher, Wertpapiere und Schmuck. Polizisten begleiten den Transport per Straßenbahn zum Sammelplatz am Osteingang des Hauptbahnhofs, dem sogenannten "Fürstenbahnhof". Erst am Abend setzt sich der Zug in Bewegung. Drei Tage später kommt er in Oloron südlich von Pau am Nordrand der Pyrenäen an. Für die letzten 18 km vom Bahnhof bis zum Lager Gurs stehen offene Lastkraftwagen bereit.

Emmy Ettlinger geb. Falck in Karlsruhe vor 1927 mit ihrem Sohn Leopold

Emmy Ettlinger, geboren in Lübeck, ausgebildete Zeichnerin und Malerin, ist zum Zeitpunkt der Deportation 58 Jahre alt. Ihr Mann Max Ettlinger, Ingenieur in Karlsruhe und Teilhaber der Leder-Firma Hermann und Ettlinger in Durlach, war 1927 an den Spätfolgen einer Verletzung im Ersten Weltkrieg gestorben. Ihre Tochter Therese ist verheiratet, hat ein Kind und plant die Flucht nach Palästina. Dies beabsichtigt auch die jüngere Tochter Hannah. Ihr Sohn Leopold arbeitet in Zürich, ist verheiratet und wird zu ihrer nahezu einzigen Kontaktperson aus dem Lager Gurs heraus, denn mit der Schweiz ist ein Postverkehr noch einigermaßen möglich.

Im ersten Brief berichtet sie von unvorstellbarem Morast im Lager, ausgelöst durch anhaltende Regenfälle, sowie von Kälte und von einem Mangel an Gebrauchsgegenständen jeglicher Art. Sie bittet um warme Kleidung, ein Paar alte Skischuhe, Briefpapier und Umschläge. Sie lässt sich Zeichenstifte, Material zum Aquarellieren und Papier schicken und hält in kleinen Zeichnungen den Alltag im Lager fest, vor allem die Baracken und ihre Bewohner, gelegentlich auch die Pyrenäen-Landschaft. Im nächsten Brief schreibt sie, sie sei froh um ein Dach über dem Kopf, ertrage alles gut und sei in Stimmung. Sie sieht die unhygienischen Zustände, die mangelhafte Ernährung und die fehlende medizinische Betreuung. In einer Skizze hält sie den Grabstein für Rolf Maas fest, einen der über 1000 Lagerinsassen, die im Winter 1940/41 sterben. Er war der Ehemann ihrer Schwägerin, der Schwester ihres verstorbenen Ehemanns, und gehörte zu den 15 Bewohnern des gettoisierten Hauses am Haydnplatz 6 in Karlsruhe, die mit ihr ins Lager Gurs verschleppt worden waren. Trotz des Elends schreibt sie im Februar 1941: "Seid beruhigt, mir geht es gut. Wenn es eine Liste gäbe von denjenigen, die es hier am besten ertragen, würde ich vorne dran stehen."

Aber bald nach diesem Brief wird sie wegen eines Knotens von der Größe einer Erbse im Brustbereich im April 1941 ins Krankenhaus in Pau eingewiesen. Die Diagnose heißt Brustkrebs. Schon allein das Schlafen in einem Bett anstatt in Kisten, die mit Stroh gefüllt sind, bedeutet die Rückkehr in die Zivilisation. Nach der Operation treten Schwierigkeiten auf, sodass sie erst im September geheilt ins Lager zurückgeschickt wird.
Statt des Morastes sieht sie im Spätsommer 1941 Blumen zwischen den Baracken, jemand hat sogar Gemüse angepflanzt. Helferinnen internationaler Organisationen und Spenden für Medikamente, Zusatznahrung, Kleidung, Musikinstrumente und Bücher lindern nicht nur die materielle Not, sondern ermöglichen ein kulturelles Leben, das die Widerstandsfähigkeit der Lagerinsassen stärkt. Es gibt Vorträge und Konzerte namhafter Künstler. Emmy Ettlinger belegt Kurse in Englisch, Gesang und Plakatschrift und beginnt wieder zu malen: Optimismus und künstlerische Betätigung sind ihre Überlebensstrategie. Neben der Freude über die Genesung und das kulturelle Angebot ist sie sich jedoch bewusst, wie ernst es um Menschen steht, die wegen ihres Gesundheitszustandes und Alters unter den Strapazen leiden. Groß ist  die Betroffenheit, wenn es um Bekannte oder Verwandte aus Karlsruhe geht, wie Ende Oktober 1941 beim Tod von Berta Hemmerdinger, der Schwiegermutter ihrer Tochter Therese.

Organisationen wie dem protestantischen Hilfswerk CIMADE, der Schweizer Hilfe, der Kinderhilfe OSE und den Quäkern gelingt es im Frühjahr und Sommer 1941, die Kinder und Jugendlichen aus dem Lager heraus und in französischen Kinderheimen oder Waisenhäusern unterzubringen.

Im November 1941 erreichen Hilfsorganisationen, dass fast 60 ältere Personen das Lager Gurs verlassen können. Sie finden Aufnahme in einem Heim in Chansaye nördlich von Lyon. Alexandre Glasberg, ein katholischer Geistlicher jüdischer Herkunft  aus der Ukraine, hatte mit Zustimmung des Erzbischofs von Lyon von der Vichy-Regierung die Erlaubnis zur Eröffnung des Heims erhalten – wohl nur deswegen, weil die Regierung nun nicht mehr für die Internierten aufkommen muss. Glasberg eröffnet weitere ähnliche Heime und leistet ab 1943 auch Fluchthilfe in die Schweiz. 2004 ehrt ihn Yad Vashem für die Rettung verfolgter jüdischer Menschen als "Gerechter unter den Völkern".

Emmy Ettlinger ist glücklich, aus dem Lager heraus zu kommen und darüber, dass sie mit ihrer Freundin Martha Stern ein eigenes Zimmer erhält. Die Heimbewohner sind auf Unterstützung von außen angewiesen. Eine Entlassung aus dem Lager wäre ohne die Zusicherung der Finanzierung des Aufenthalts durch ihren Sohn und durch den Onkel seiner Frau, den Mathematikprofessor Heinz Hopf an der ETH Zürich, nicht möglich gewesen. Es herrschen Einschränkungen: Einkäufe sind verboten und die Freizügigkeit der Heimbewohner ist begrenzt.
Auch in Chansaye erhält Emmy Ettlinger Post von ihrem Sohn: Tochter Hannah, inzwischen nach Palästina gelangt und verheiratet, erwarte ein Kind. Über ihre ältere Tochter Therese herrscht Ungewissheit: Sie befinde sich mit ihrem kleinen Sohn Uri in der Nähe von Berlin. Besondere Sorgen macht sich Emmy Ettlinger um ihre betagte Mutter und die jüngste Schwester, die nach Theresienstadt deportiert worden waren. Ein Jahr verrinnt zwischen alltäglichen Verrichtungen im Haushalt und der Sorge um Tochter, Mutter und Schwester.

Anfang September 1942 wird ihr Sohn durch eine Zeitungsnotiz auf erste Deportationen von Juden auch aus dem nicht besetzten Teil Frankreichs nach Osten alarmiert. Sofort am 13. September stellt er bei der Schweizer Fremdenpolizei einen Antrag auf Einreiseerlaubnis für seine Mutter. Die erforderliche Kaution von 5 000 Franken zahlen Professor Heinz Hopf und weitere Bekannte. Einen Tag später erfährt Leopold, dass seine Mutter tatsächlich in ein Sammellager in Villeurbanne bei Lyon gebracht worden war. Mit Hilfe von Leopolds Chef, Professor Ernst Gäumann, gelingt es, dass der sozialdemokratische Züricher Stadtpräsident  Ernst Nobs schon am 16. September das Gesuch an den Polizeivorstand der Stadt Zürich weitergibt.

Nach dem Eintreffen der telegrafischen Nachricht, für Emmy Ettlinger sei ein Antrag auf Einreise in die Schweiz gestellt worden, kann sie am 17. September nach Chansaye zurückkehren. Wie sie in einem Dankesbrief an Heinz Hopf schreibt, wäre sie einige Stunden später verloren gewesen. Das Gesuch wird später von der Schweizer Fremdenpolizei abgelehnt. Auch misslingt der Versuch ihres Sohnes, sie mit Schleppern in die Schweiz bringen zu lassen.

So verbringt sie noch drei Jahre im Heim in Chansaye, getrennt zwar von ihrer Familie, aber mit dem Gefühl, verhältnismäßig sicher zu sein. Von Leopold erfährt sie von Enkeln bei Hannah und bei ihm selbst. Glücklich ist sie über die Mitteilung, der Ehemann der Tochter Therese sei im Herbst 1942 in Palästina eingetroffen. Als im Juli 1944 die Tochter Therese selbst mit ihrem Sohn Uri im Austausch gegen deutsche Templer ebenfalls nach Palästina gelangt, ist die Freude groß. Traurig macht sie dagegen die Nachricht vom Tod ihrer 87 Jahre alten Mutter Margarethe Falck Ende 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt. Dorther erhält sie noch einzelne Lebenszeichen ihrer jüngsten Schwester Juliana. Von deren Ermordung im Vernichtungslager Auschwitz erfährt sie erst 1945.

Die Schweizer Fremdenpolizei lehnt erneute Einreisegesuche ab mit der Begründung, die Zureise von Emigranten sei zur Zeit nicht erwünscht. Erst im Oktober 1945 kann Emmy Ettlinger in die Schweiz zur Familie ihres Sohnes. Sie führt den Haushalt, der sich 1946 um einen Enkel vergrößert, und erleichtert so ihrem Sohn und seiner Frau die Ausübung ihrer Berufe. Daneben absolviert sie einen Webkurs und beginnt, künstlerisch in diesem neuen Bereich zu arbeiten.

Nach der Gründung des Staates Israel 1948 reist sie zu ihren Töchtern. Ab 1949 wohnt sie zuerst bei Therese in der Nähe von Tel Aviv, dann zieht sie zu Hannah in den Kibbuz Bet Haschitta südöstlich von Nazareth. Sie ist aufgehoben in der Gemeinschaft, bei Menschen ihres Alters und bei den Familien ihrer Töchter. Sie ist weiter mit Zeichenstift und Pinsel tätig, malt Stillleben und Landschaftsbilder, portraitiert und webt. Manchmal spielt sie, wie schon im Lager Gurs und in Chansaye, bei kleinen Theaterstücken mit. So erlebt sie zufriedenstellende späte Jahre. Sie stirbt am 31. März 1960 in ihrer neuen Heimat.

Verwandte von Emmy Ettlinger 1933 – 1945

Mutter Margarethe Falck: tot im Konzentrationslager Theresienstadt
Schwester Alice Wrescher: tot im Konzentrationslager Riga
Schwester Gertrud Fürst: Vernichtungslager Auschwitz, überlebt
Gertruds Ehemann Henry: tot im Vernichtungslager Auschwitz
Schwester Juliana Mansbacher: tot im Vernichtungslager Auschwitz
Schwester Magda Falck: tot im Vernichtungslager Treblinka
Schwester Therese Mecklenburg: tot im Vernichtungslager Auschwitz
Thereses Ehemann Herbert: tot im Lager Gurs
Thereses Tochter Hanna:    tot im Vernichtungslager Auschwitz
Thereses Sohn Hermann: tot im Vernichtungslager Auschwitz

 

Das "Judenhaus" Haydnplatz 6

Schicksale der Bewohner des "Judenhauses" am Haydnplatz 6 in Karlsruhe nach der Deportation am 22. Oktober 1940 ins Lager Gurs

Emmy Ettlinger überlebt in Chansaye in Frankreich.

Paul und Victor Homburger, Inhaber des am 1. Januar 1939 liquidierten Bankhauses Veit L. Homburger, sowie Marianne Homburger, Frau von Victor Homburger, gelingt die Flucht in die USA.

Die Eheleute Alfred und Flora Kahn und ihre Kinder Gerhard und Suse erreichen im Mai 1942 Kuba.

Otto und Lilli Löwenthal und ihr Sohn Heinz werden aus dem Lager Gurs ins Sammellager Drancy bei Paris und am 4. September 1942 mit dem Transport Nr. 28 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert.

Rolf Maas stirbt am 20.11.1940 im Lager Gurs, seine Frau Dora und die Tochter Herta können sich in die USA retten.

Die Eheleute Max und Melanie Rosenberg erleben die Befreiung im Altersheim in Plombières-les-Dijon in Frankreich.

 

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