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Blick in die Geschichte Nr. 138

vom 17. März 2023

Geschichtsschreibung in eigener Sache

Die badische Regierung und das Buch "Umsturz in Baden 1918"

von Martin Furtwängler

 

Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann in Berlin die Deutsche Republik aus. Die Revolution hatte gesiegt, das Deutsche Kaiserreich war Geschichte. Einen Tag später bildete sich auch in Baden eine aus der Revolution hervorgegangene provisorische Regierung, die Vorläufige Volksregierung. Unter Führung des Sozialdemokraten Anton Geiß bestand sie aus insgesamt zehn weiteren Ministern der SPD, der USPD, der Liberalen sowie des Zentrums. Sie gestaltete den Übergang Badens von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie, der mit der Verabschiedung der Badischen Verfassung im März 1919 seinen Abschluss fand.

Bei der Übernahme ihrer Ämter befanden sich die neuen Minister in einer schwierigen Lage: Keiner von ihnen verfügte über praktische Regierungserfahrung. Gleichzeitig war die Situation im Land von Hektik und Unübersichtlichkeit geprägt, schließlich musste neben der revolutionären Umwälzung auch die Weltkriegsniederlage bewältigt werden. Der Druck auf die politischen Handelnden war folglich groß. Wie es der neue Ministerpräsident Geiß in seinen Lebenserinnerungen schildert, veränderte sich die Lage mitunter so rasch, dass "öfters […] zwei Kabinettssitzungen an einem Tag abgehalten werden [mussten], um die Ereignisse einigermaßen meistern zu können". Und Justizminister Ludwig Marum bemerkte: "Als ich Minister geworden war, hatte ich den Eindruck, daß meine Ministerherrlichkeit nicht länger als 24 Stunden dauere. Ich hatte das Gefühl gehabt, daß wir auf außerordentlich schwankendem Boden uns bewegten".

 

Bibliothekar soll Revolutionsgeschehen dokumentieren

Wilhelm Engelbert Oeftering 1879-1940, Foto um 1935

Am 18. November 1918, noch mitten im Revolutionsgeschehen - der Großherzog dankte erst vier Tage später endgültig ab -, tat die Vorläufige Volksregierung dann etwas Ungewöhnliches: Sie bat den Karlsruher Bibliothekar und Literaturwissenschaftler Wilhelm Engelbert Oeftering eine Geschichte der Revolution in Baden als Buch zu veröffentlichen. Das Werk kam schließlich 1920 im Konstanzer Verlag Reuss & Itta heraus. Unter dem Titel "Umsturz in Baden 1918" schildert Oeftering darin vor allem das Revolutionsgeschehen in der Landeshauptstadt Karlsruhe und ist bemüht eine möglichst lückenlose Darstellung der Geschehnisse im politischen Zentrum Badens zu liefern. Ein derartiges, von einer Revolutionsregierung initiiertes Projekt war 1918 in Deutschland einzigartig und verdient eine nähere Betrachtung.

Über die Motive der Vorläufigen Volksregierung, eine Geschichte der Revolution in Auftrag zu geben, geben die Quellen nur indirekt Auskunft. Ziel war es wohl durch eine "zutreffende Darstellung" der politischen Vorgänge während der Revolution, Werbung für die anvisierte neue demokratisch-republikanische Staatsform zu machen. Gleichzeitig sollte damit aber wohl auch einer negativen Legendenbildung über die Revolution seitens ihrer politischen Gegner entgegengewirkt werden, wie diese dann ja reichsweit mit der sogenannten Dolchstoßlegende einsetzte.

Dass die Wahl bei diesem Vorhaben auf Oeftering als Autor fiel, überrascht zunächst. Denn dieser war kein Historiker und hatte sich bis dato auch nicht als Publizist politisch-historischer betätigt. Allerdings war er damals schon seit etlichen Jahren durch Übersetzungen, Editionen mittelalterlicher Literatur und als Literaturkritiker, besonders der badischen Literatur, hervorgetreten. Dabei hatte er eine beachtliche sprachliche Gewandtheit unter Beweis gestellt. Zudem dürfte für ihn gesprochen haben, dass er Mitglied einer linksliberalen Partei war, daher sowohl für die bürgerlichen wie auch für sozialistischen Minister in der Vorläufigen Volksregierung als politisch akzeptabel gelten konnte.

 

Zeitzeugen werden befragt

Bei der Erfüllung seines Auftrags wurde Oeftering seitens der neuen Regierung tatkräftig unterstützt. Er erhielt Zugang zu den Protokollen aller Kabinettssitzungen und das Justizministerium gewährte ihm Einsicht in die Akten zum Fall des Matrosen Klumpp, durch dessen Schießerei im Hof des Residenzschlosses sich der Großherzog am 11. November 1918 zur Flucht aus Karlsruhe veranlasst sah. Auch der Karlsruher Arbeiter- und Soldatenrat stellte ihm seine Unterlagen zur Verfügung. Außergewöhnlich für die damalige Zeit war Oefterings Geschichte der Revolution wegen der umfangreichen Verwendung von Zeitzeugenaussagen. Neben verschiedenen schriftlich eingeholten Stellungnahmen flossen die Ergebnisse von mindestens 14 mündlichen Befragungen von Personen ein, die maßgeblich am Revolutionsgeschehen beteiligt waren: so die Mehrheit der aktuellen Minister, aber auch der Vorsitzende des Karlsruher Soldatenrates Emil Weser oder Adam Remmele, damals Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte in der Regierung und später langjähriger Innenminister. Diese Befragungen begannen bereits am 21. November 1918 und dauerten wohl bis in den Februar 1919 hinein. Sie wurden also zeitnah durchgeführt, quasi parallel zum Agieren der Befragten, so dass der Erzählung noch nicht durch eigene Reflexionen oder die Übernahme von Erfahrungen Dritter überformt werden konnte. Schriftlich festgehalten wurden Oefterings Befragungen durch den Parlamentsstenographen Friedrich Seiberlich. Von diesen sehr persönlichen Aussagen über verschiedene Ereignisse der Revolution in Baden haben sich vier Originale im Generallandesarchiv in Karlsruhe erhalten. Die übrigen Gesprächsprotokolle sind wohl verloren gegangen, da Oeferting sie nach Abschluss seiner Arbeit an die Befragten zurückgeben musste. Denn diese waren meist nicht bereit, die Mitschriften dem Archiv zu überlassen, da, wie Oeftering gegenüber der badischen Regierung 1920 bemerkte, "einzelne Herren Bedenken hatten, ihre Aussagen an einer Stelle niederzulegen, wo sie womöglich auch vom politischen Gegner eingesehen und ausgenützt werden könnten". Das zeugt einerseits von beachtlichem Vertrauen gegenüber Oeftering, andererseits von erheblichem Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und schließlich auch von einer skeptischen Einschätzung der Verhaltensweisen in der Politik. Daher verwundert es auch nicht, dass keineswegs alle von Revolution tangierten Gruppen überhaupt bereit waren, Stellungnahmen abzugeben. So verweigerten die Führer der Karlsruher USPD ihre Mitarbeit und von Seiten der Revolutionsgegner äußerte sich nur der letzte großherzogliche Staatsminister Heinrich von Bodman. Es ist jedoch nicht bekannt, ob und wieviele weitere Protagonisten der alten Eliten angefragt wurden.

Die Arbeit an seinem Manuskript konnte Oeftering Ende 1919 abschließen. Gemäß Kabinettsbeschluss vom 28. November sollte es jedoch vor der Drucklegung jedem Regierungsmitglied nochmals vorgelegt werden. Offenbar wollte sich die nunmehr regulär vom Landtag gewählte Regierung vergewissern, dass das Buch keine unliebsamen Passagen enthielt. Ob es im Rahmen dieser Sichtung zu Veränderungen des Manuskripts kam, ist nicht mehr zu klären. Doch dürfte das Werk insgesamt zur Zufriedenheit der Regierung ausgefallen sein, behandelt es doch die Revolution in Baden "etwa vom Standpunkt eines links stehenden Demokraten", wie Staatsrat Heinrich Köhler 1919 im Kabinett bemerkte, und war daher im nun amtierenden Kabinett wohl konsensfähig.
 

Buchtitel

Da das Werk Oefterings in das Verlagsprogramm von Reuss & Itta aufgenommen wurde, fielen für den badischen Staat weder Honorar- noch Druckkosten an. Der Autor bat jedoch um die Abnahme einer möglichst großen Anzahl von Exemplaren, für die ein Vorzugspreis gewährt wurde. Hatte das badische Staatsministerium noch am 23. Dezember 1919 beschlossen, 1.000 Exemplare zu bestellen, um es an Bezirksämter, Bibliotheken und Schulen zu verteilen, wurde die Stückzahl schließlich 1920 deutlich auf 200 reduziert. Offenbar maß die Mehrheit des Kabinetts einer positiven Revolutionsdarstellung nun nicht mehr das Gewicht bei wie noch im Jahr zuvor. Lediglich der damalige Staatsrat Marum plädierte im September 1920 noch für eine größere Abnahmemenge. Aber immerhin einigte man sich noch darauf, im Amtsblatt auf das Buch hinzuwiesen und es zur Anschaffung zu empfehlen, um so für seine möglichst weite Verbreitung zu sorgen.

 

Resonanz

Die öffentliche Resonanz auf das Werk war zwiespältig, je nach politischem Standpunkt der Rezensenten und ihrer Haltung zur Revolution. Während es die regierungsnahe Presse wohlwollend aufnahm, hagelte es von konservativer Seite, etwa von der Süddeutschen Zeitung, massive und zum Teil höhnische Kritik. Hier sah man das Buch nur als Versuch an, die alten Gewalten des Kaiserreiches zu diskreditieren und ihnen selbst die Schuld am Ausbruch der Revolution zuzuschieben.

Heute kann Oefterings Werk geradezu als ein Klassiker für die Geschichte der Revolution 1918 in Baden gelten. Die angewandte Methode, Zeitzeugeninterviews noch im laufenden politischen Prozess systematisch durchzuführen und zu verwenden, war innovativ und ihrer Zeit voraus. Dadurch konnten Abläufe, Ereignisse und Entwicklungen in den Monaten des demokratischen Umbruchs 1918/19 dokumentiert werden, die in sonstigen Quellen nicht überliefert sind.

Dr. Martin Furtwängler, Historiker, Karlsruhe

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