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Blick in die Geschichte Nr. 140

vom 15. September 2023

1923 "Unglücksjahr für das Deutsche Volk"

Besetzung, Inflation, soziale Not und politische Radikalisierung in Karlsruhe

von Ernst Otto Bräunche

Anfang 1924 blickte der badische Staatspräsident Heinrich Köhler (Zentrum) auf ein "Unglücksjahr für das Deutsche Volk" zurück, das im Januar mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch Belgien und Frankreich begonnen hatte, weil Deutschland mit der Zahlung der im Versailler Vertrag auferlegten Reparationszahlungen in Verzug geraten war.

 

Die Inflation

Nachdem die deutsche Regierung sofort den passiven Widerstand proklamiert hatte, arbeiteten die Banknotenpressen Tag und Nacht und druckten Geldscheine mit immer astronomischeren Beträgen. Neben den offiziellen Banknoten kursierten seit 1918 auch Notgeldscheine der Städte und Großfirmen in Form von Gutscheinen. Die Stadt Karlsruhe hatte erstmals am 16. Oktober 1918 eigene 5-Mark und 20-Mark-Notgeldscheine im Wert von insgesamt 10 Millionen herausgegeben. Nach einer längeren Pause wurden im September 1922 die städtischen Notenpressen wieder in Gang gesetzt. Alle 1918 bis 1923 ausgegebenen städtischen Notgeldscheine umfassen einen Gesamtwert von kaum mehr fassbaren 49.421.019 Billionen Mark. Allein rund 47 Billiarden wurden in den Monaten Oktober und November 1923 ausgegeben, zuletzt waren es 100-Milliarden-Scheine. Karlsruhe blieb mit 0,357 Billionen Papiermark pro Kopf aber deutlich unter dem Durchschnitt der Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, der bei 2,64 Billionen pro Kopf lag.
 

Von Alfred Kusche gestalteter Karlsruher Notgeldgeldschein

Ein Blick auf die Lebensmittelpreise verdeutlicht Rasanz und Dramatik der Entwicklung im Jahr 1923. 500 g Kornbrot kosteten am 15. Januar 235 Mark, am 15. Oktober aber 110 Millionen Mark, der Preis für ein Pfund Rindfleisch stieg von 1.000 Mark auf 600 Millionen. Wer es sich am 12. November 1923 noch leisten konnte, die "Karlsruher Zeitung" zu abonnieren, musste dafür 140 Milliarden Mark wöchentlich ausgeben, eine Woche später, am 19. November nach der Einführung der Rentenmark nur noch 70 Goldpfennig zahlen. Eine Rentenmark entsprach einer Billion Papiermark. Abgesichert war die als Übergangswährung gedachte, tatsächlich aber neben der im August 1924 wieder gültigen Reichsmark bis nach dem Zweiten Weltkrieg im Umlauf befindliche Rentenmark durch auf Gold laufende Rentenbriefe. Diese waren mit einer (fiktiven) Grundschuld auf den gesamten Grundbesitz von Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe abgesichert. Die Sparguthaben vieler Kleinsparer waren nun aber endgültig verloren. Nicht wenige machten dafür die Weimarer Demokratie verantwortlich und vergaßen die Ursachen, die im Kaiserreich lagen.

 

Die soziale Lage

Bereits Ende des Jahres 1922, als sich eine erneute dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage schon angekündigt hatte, war eine Ortsgruppe der Deutschen Notgemeinschaft gegründet worden, die sich unter der Überschrift "Rettet! Helft!" an die Bevölkerung wandte und um Spenden bat. Der Notgemeinschaft mit der Geschäftsstelle im städtischen Fürsorgeamt gehörten zahlreiche Vereine, Behörden und Religionsgemeinschaften an. In einem Arbeitsausschuss saßen unter Leitung von Oberbürgermeister Julius Finter zahlreiche Honoratioren der Stadt.

Wie notwendig die Hilfe war und welche Auswirkungen die soziale Notlage hatte, schildert der Karlsruhe Schularzt Hermann Paull: "Schon die äußere Körperpflege in Kleidung und Wäsche und die Hautpflege erinnerte an die schlimmsten Zeiten während des Krieges. Kinder ohne Hemden, mit zerrissenen Schuhen, mit schmutzigen und zerlumpten Kleidern wurden wieder häufiger angetroffen. Infolgedessen erschienen auch Krätze und Eitergrind und andere Hautkrankheiten wieder in größerer Zahl und riefen ein Schulbild, wie es uns aus der letzten Kriegszeit noch lebhaft in unserer Erinnerung steht, wieder wach." Hilfe kam auch aus der Schweiz: Ende des Jahres richtete die Stadt Basel bzw. die dortigen Frauenvereine zusätzlich eine Schweizer Suppenküche ein, in der je 500 Personen mittags und abends eine warme Mahlzeit erhielten.

Nach der Ausrufung des passiven Widerstands fielen Anfang 1923 die Kohlelieferungen aus dem Saarland und dem Ruhrgebiet völlig aus. Ersatz musste zu höheren Preisen im Ausland besorgt werden. Bereits im Herbst 1922 hatte das Fürsorgeamt einen beheizten Schulraum für alleinstehende Frauen und Mädchen beantragt. Die Stadt unterhielt zu diesem Zeitpunkt schon Wärmestuben vor der Festhalle und in der Mittelstandsküche des Vereins für Evangelische Stadtmission. Angesichts der "in den letzten Monaten und Wochen in geradezu erschreckendem Masse" um sich greifenden Arbeitslosigkeit sah man sich gezwungen, auch wieder verstärkt Notstandsarbeiten an der stillgelegten Lokalbahnlinie Hagsfeld-Spöck, im Gebiet der Albsiedlung, am Mühlburger Tor, beim Rheinhafen und bei Rüppurr in Angriff zu nehmen. Die Zahl der arbeitslosen Hauptunterstützungsempfänger war seit Jahresbeginn von 63 auf über 5.000 angestiegen. Zu diesen Erwerbslosen kamen noch die Personen hinzu, die aufgrund der Rheinhafenbesetzung ihre Arbeit verloren hatten und aus der Rhein-Ruhrhilfe bezahlt wurden.

 

Die Rheinhafenbesetzung

Am 3. März hatten französische Soldaten aus der besetzten Pfalz die Schiffsbrücke bei Maxau überschritten und das Rheinhafenamt mit 80 Mann besetzte. Der Karlsruher Stadtrat protestierte am 5. März sogleich mit einer "Entschließung gegen diesen völkerrechtswidrigen Gewaltakt und ermahnte die Bevölkerung zur Besonnenheit, Ruhe und vor allem zur Würde. Kein französischer Soldat sollte Anlaß haben, sich über unwürdiges Verhalten, wozu auch zudringliche Neugierde gehört, zu freuen."

Besetzung des Karlsruher Rheinhafens durch französische Soldaten, 3. März 1923

Durch die Besetzung konnte die Stadt auch nicht auf dort gelagerten Auslandsweizen zurückgreifen, wodurch die ohnehin schwierige Versorgungslage zusätzlich erschwert wurde. Die französischen Truppen beschlagnahmten außerdem andere Güter, die nach Frankreich gebracht wurden. Der Schaden betrug schließlich mehrere Millionen Goldmark. Die Arbeit kam sofort weitgehend zum Erliegen, so dass die rund 2.500 Arbeiter fast alle auf die Unterstützung durch die Rhein-Ruhrhilfe angewiesen waren. Am 12. Mai erweiterten die französischen Truppen die Besatzung bis zum städtischen Elektrizitätswerk. Obwohl der passive Widerstand am 16. September 1923 eingestellt werden musste, dauerte es noch bis zum 21. Oktober 1924, bis der Rheinhafen wieder geräumt wurde.

 

Politische Radikalisierung

Schon im März 1923 hatte der badische Innenminister Adam Remmele die Gründung einer Ortsgruppe der Deutschvölkischen Freiheitspartei verboten, da sich einwandfrei erwiesen habe, "daß diese von Anhängern der nationalsozialistischen Arbeiterpartei betrieben wurde und daß die früheren Mitglieder dieser bereits verbotenen Partei versuchen wollten, in der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung ihre Bestrebungen fortzusetzen." In diesem Jahr durchsuchte die Polizei auch die Wohnungen von zehn ehemaligen Mitgliedern der NSDAP, die sich nach wie vor in der Gastwirtschaft "Linde" trafen. 13 Personen, darunter der Grötzinger Maler Otto Fikentscher und der ehemalige Karlsruher NSDAP-Ortsgruppenleiter und spätere Stadtverordnete (DVP), der Bildhauer Hugo Kromer, wurden angeklagt. Ohne spürbare Resonanz blieb der Hitlerputsch in München am 9. November 1923. In der Nacht vom 28. auf den 29. November 1923 wurden aber an verschiedenen Häusern Klebezettel mit antisemitischen und rechtsradikalen Aussagen angebracht. Das Landespolizeiamt durchsuchte daraufhin einige Wohnungen und verhörte die Verdächtigen. Noch blieben die Nationalsozialisten und ihre Tarnorganisationen eine Minderheit. Die Reichstagswahlen des folgenden Jahres zeigten, dass die rechten Parteien noch nicht nachhaltig von der politischen und wirtschaftlichen Krise profitieren konnten. Das Jahr 1923 war nämlich zugleich Höhe- und zumindest vorübergehender Endpunkt der extremen wirtschaftlichen Not. So kam nach dem "Unglücksjahr" 1923 eine relativ stabile Phase der Weimarer Republik, worauf sich die verklärende Charakterisierung als die "Goldenen Zwanziger" zurückführt.

Dr. Ernst Otto Bräunche, Redaktion/Herausgeber "Blick in die Geschichte"

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