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Blick in die Geschichte Nr. 131

vom 18. Juni 2021

Mit Karlsruher Wurzeln

Die Pariser Fotografendynastie Reutlinger

von Peter Pretsch

Als Carl Reutlinger 1850 ein Fotostudio in Paris gründete, hatte er schon eine Karriere als Pionier der Fotografie mit der seit 1839 dafür zur Verfügung stehenden Technik der Daguerreotypie hinter sich. Als Sohn des jüdischen Weinhändlers Löw (Leopold) Reutlinger am 25. Februar 1816 in Karlsruhe geboren, übte er zunächst das Buchbinderhandwerk aus, was jedoch seine künstlerischen Neigungen nicht befriedigen konnte. Schon früh soll er sich nach seinem Biographen Jean-Pierre Bourgeron mit der Technik des Scherenschnitts beschäftigt haben, dazu wurden oftmals Ateliers mit optischen Gerätschaften ausgestattet, die jenen der späteren Fotostudios ganz ähnlich waren.

Carl Reutlinger, der sich in Paris Charles nannte, um 1870

Nachdem Wanderdaguerreotypisten nach 1840 auch in Karlsruhe ihre Dienste anboten, wurde Carl Reutlinger darauf aufmerksam und wollte dieses Handwerk ebenfalls erlernen. 1842 ging er nach Frankfurt am Main, um bei dem Kunstmaler und Silhouetteur Johann Gottlieb Bauer in die Lehre zu gehen, der später dort eines der ersten Fotoateliers gründete. Zuvor hatte Reutlinger wohl die Konfession gewechselt und 1839 in Karlsruhe das Bürgerrecht erworben sowie seinen noch im jüdischen Geburtsregister verzeichneten Vornamen "Elkan" in "Carl" geändert. Welche Gründe für diesen Schritt maßgebend waren, ist nicht bekannt. Juden hatten damals jedoch noch nicht die volle bürgerliche Gleichstellung erreicht und lebten teilweise in einer judenfeindlichen Umgebung. So gab es zu dieser Zeit auch antisemitische Ausschreitungen in Karlsruhe.

Als Daguerretypist auf Wanderschaft

Nach seiner Frankfurter Lehre hielt sich Carl Reutlinger wohl nur noch sporadisch in Karlsruhe auf und zwar im angemieteten Haus seiner verstorbenen Eltern in der Waldhornstraße 14, das dem Wagenfabrikanten Ulrich Kautt gehörte. Vornehmlich ging er als Daguerreotypist auf Wanderschaft und bot seine Dienste in Tübingen, Stuttgart, Ulm und Augsburg an. Dort haben sich einige Daguerreotypien von ihm erhalten. Sie tragen auf der Rückseite seinen Firmenstempel "Carl Reutlinger, Daguerreotypist aus Carlsruhe".

Nicht auszuschließen ist allerdings, dass er auch einige Aufnahmen in Karlsruhe machte, wie etwa die vor einiger Zeit in Privatbesitz aufgetauchte Daguerreotypie des Theaterdieners Franz Kassel und seiner Frau, die zwar nicht signiert ist, aber wie eine Kostbarkeit von kleinen Buchdeckeln umschlossen ist, wie sie eigentlich nur ein Buchbinder herstellen kann.

Abbildung in den BNN vom 26. Juli 2019

Als Reutlinger schon längst in Paris war, hat er jedenfalls dort oder in Karlsruhe Ludwig Kautt fotografiert, der die Fabrik seines Vaters übernommen hatte und dessen Portrait in einem Album der Loge Leopold zur Treue im Stadtarchiv zu finden ist. Die hauptsächliche Kundschaft in seinem Pariser Atelier waren aber die Persönlichkeiten der Pariser Bourgeoisie, darunter berühmte Schriftsteller wie Alexandre Dumas oder Honoré de Balzac, Politiker des zweiten Kaiserreichs und Familienangehörige Napoleons III. sowie bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler und Sängerinnen und Sänger des Theaters.

Mittlerweile war es auch möglich mit dem nassen Kollodiumverfahren, das Reutlinger nach eigener Aussage nach Paris gebracht hatte, Abzüge der Bilder auf Papier herzustellen, was mit der Daguerreotypie nicht möglich gewesen war. Seine Frau Therese bot Kurse in der neuen Technik an und ging damit auf Wanderschaft, wie dies durch eine Stuttgarter Zeitungsannonce von 1852 belegt ist. Von 1849 bis 1852 hatte sie zudem in Karlsruhe noch einen Wohnsitz in der Herrenstraße, wo sie wahrscheinlich ebenfalls ihre Kenntnisse an Interessenten weitergegeben hat. In der Herrenstraße eröffnete um 1852 mit dem Atelier von Theodor Schuhmann eines der ersten Fotostudios in Karlsruhe.

Die Brüder Reutlinger in Paris

Reutlinger selbst blieb bei allen Neuerungen einem konventionellen Atelierstil treu und fotografierte seine Kundschaft in Paris bis 1870 recht statisch sitzend vor einem gemalten Hintergrund. Danach änderte sich dieser Stil, nachdem er seinen aus Südamerika zurückgekehrten Bruder Emil bei sich aufgenommen und ihn zum Compagnon gemacht hatte. Emils Wurzeln in Karlsruhe liegen noch mehr im Dunkeln als die Carls. Er ist aber als Sohn derselben Eltern im jüdischen Geburtsregister vom 27. August 1825 unter dem Namen "Elias" verzeichnet. Sein Biograph Bourgeron berichtet, dass er künstlerisch begabt gewesen sei und auch im Ausland als Kunstmaler tätig war. Tatsächlich ist im Karlsruher Adressbuch von 1842 ein Kupferstecher Reutlinger ohne Vornamen verzeichnet und danach nicht mehr. Hat ihn sein Bruder Carl nach Frankfurt zur Ausbildung mitgenommen und ist er von dort über Nordamerika nach Peru ausgewandert? 1860 heiratete er als Emil Reutlinger in der Hauptstadt Lima die Protestantin Amelia Ellen Horn vier Monate nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Leopold. In der Hafenstadt Callao soll Emil mehrere Häuser besessen haben, die aber durch ein Erdbeben zerstört wurden. Das war wahrscheinlich der Beweggrund für die Rückkehr nach Europa.

Emil Reutlinger um 1870
Das Fotoatelier Reutlinger in Paris am Boulevard Montparnasse 21 rechts im Bild zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Blick ins Atelier Reutlinger in Paris, Boulevard Montmartre 21, Holzstich
Badische Familie, Daguerreotypie vor 1850, Foto: Carl Reutlinger
Schönheiten der Belle Époque in Paris: Colette, Foto: Atelier Reutlinger
Schönheiten der Belle Époque in Paris: Arlette Dorgère, Foto: Atelier Reutlinger

Aus Peru brachte Emil ein Album mit Fotoaufnahmen unter anderem der indigenen Bevölkerung mit, das heute als besonderer Schatz in der Pariser Nationalbibliothek aufbewahrt wird. In das Pariser Atelier brachte er frischen Schwung mit freizügigen Fotos der Pariser Bohème und der Tänzerinnen in den Varietés, die auch als Postkarten oder in Werbeplakaten vermarktet wurden und damit dem Fotostudio und seinen Mitarbeitern erneut ein gutes Auskommen verschafften. Sein Sohn Leopold und sein Enkel Jean knüpften daran an. Jean fiel jedoch 1914 als Soldat im Ersten Weltkrieg, sein Vater Leopold führte das Pariser Atelier bis zu seinem Tod 1937, das danach nicht mehr existierte. Der Nachlass mit über 16.000 Einheiten wird heute in der Pariser Nationalbibliothek aufbewahrt und ist zu einem großen Teil online zugänglich. Zudem sind Reutlinger-Fotos und Postkarten im Kunsthandel noch zahlreich vertreten und werden auch im Netz angeboten.

Die beiden Karlsruher Reutlingers zogen sich als Pensionäre wieder nach Deutschland zurück. Carl ließ sich 1880 in Frankfurt nieder, wo er sich eine Villa erbaute und Vizepräsident und Mitglied des dortigen fotografischen Vereins wurde, der nach seinem Tod am 24. Juni 1888 einen Nachruf auf ihn veröffentlichte, der wichtige hier wiedergebene Informationen zu seiner Lebensgeschichte enthält. Emil zog 1893 nach Baden-Baden, wo er am 9. August 1907 starb, nachdem er für sich, seine Ehefrau und seine Nachkommen dort ein Familiengrab hatte errichten lassen. So wurden hier auch seine Tochter Juanita und seine Enkelin Tita Binz begraben, die bis 1970 ein Fotostudio in Mannheim betrieben hatte.

Dr. Peter Pretsch, Leiter des Stadtmuseums Karlsruhe i. R.

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